Die letzte Rune 10 - Der Runenbrecher
eine Milliarde Türen – und hinter jeder lag eine andere Welt. Welche sollte er wählen? Eine Welt ohne Hass, ohne Angst, ohne Gewalt?
Ja, da gab es so eine Welt. Er griff danach … und zuckte zurück. Die Menschen dieser Welt drängten sich in Lehmhütten und starrten stumpfsinnig in qualmende Feuer, ihre Körper waren schmutzig und mit Entzündungen übersät. Sie erzählten keine Geschichten, sangen keine Lieder, machten keine Musik. Sie kannten keine Ängste, keine Sorgen. Und keine Hoffnung, keine Wünsche, keine Träume.
Mussten solche Dinge Hand in Hand gehen? Er hatte die falsche Tür gewählt, das war alles. Travis begab sich zur nächsten Tür, zu einer Welt ohne Hunger, ohne Schmerz, ohne Leid.
Er sah eine moderne Stadt, Denver nicht unähnlich, aber ihre Linien waren sauberer, schärfer. Dort ging eine Mutter eine Straße entlang. Sie starrte auf das tote Kind in ihren Armen, dann ließ sie es in den Rinnstein fallen und ging weiter. In der Nähe war ein Mann von einem Auto angefahren worden. Er stürzte auf die Straße, Verwirrung auf dem Gesicht, keinen Schmerz. Niemand blieb stehen, um ihm zu helfen. Er schob sich zum Bürgersteig und zerrte die gebrochenen Beine hinter sich her, dann starb er. Ein Lastwagen der Straßenreinigung fuhr vorbei, lud die Leichen auf und fuhr weiter. Der Himmel war schwarz von Abgasen; niemanden kümmerte es.
Nein, das hatte er nicht gemeint. Travis wandte sich ab und riss die nächste Tür auf. In dieser Welt gab es keinen Tod. Er sah ein Dorf wie das unterhalb von Calavere, dessen armselige Straßen mit Bündeln aus Zweigen übersät waren.
Entsetzen stieg in ihm auf. Das waren keine Zweige, sondern Menschen – abgemagerte, hinfällige Menschen. Sie hoben die dürren Arme, starrten mit milchigen Augen, öffneten zahnlose Münder für ein gepeinigtes Stöhnen, flehten um Erlösung. Passanten starrten sie hasserfüllt an und eilten schnell weiter.
Travis ergriff die Flucht. Das war es nicht. Er wollte eine Welt des Friedens, der Freude, der Schönheit. Er fand eine Tür, hinter der Menschen tanzten und lachten, ein Lächeln auf den einfachen Gesichtern. Ja, so war es richtig. Dann kam er näher und sah mehr. Nachts zerrten Ungeheuer Kinder aus ihren Betten und fraßen sie auf. Die Menschen machten daraus ein Spiel; sie erwähnten die Verschwundenen nie. Sie tanzten einfach und klatschten in die Hände, während die Schatten am Rande des Lichts ihrer kleinen, glücklichen Städte umherschlichen.
Tausend Türen öffnete er, und er erblickte dahinter tausend schreckliche Welten. Er schrie in das Nichts hinaus, aber es gab niemanden, der ihm zuhören konnte. So war das nicht gedacht gewesen. In der alten Welt hatte es so viel Leid gegeben. Krieg und Hass und Gewalt. Was nutzte es, der Weltenschmied zu sein, wenn es ihm nicht gelang, eine Welt zu erschaffen, wo es diese Dinge nicht gab? Er wollte eine Welt ohne Schmerzen und Leid, ohne Verzweiflung. Eine Welt, auf der Beltans und Vanis Tochter die Chance hatte, in Frieden aufzuwachsen …
Travis blieb stehen, ließ sich im Nebel treiben. Er griff nach dem Talisman aus Knochen an seinem Hals, aber natürlich existierte er nicht mehr, so wie es nichts gab.
Doch, es war möglich.
Er kannte eine Welt, auf der es Leid und Trauer und Tod gegeben hatte und auf der die Menschen weitermachten, weiterkämpften, weiterlebten. Weil sie Hoffnung hatten. Die Hoffnung, dass sie und die von ihnen geliebten Menschen eines Tages glücklich sein würden. Die Hoffnung, dass nach der Nacht der nächste Tag kam.
Ja, er kannte eine Welt, auf der es Hoffnung gab.
Travis suchte und fand sie sofort unter all den vielen Möglichkeiten. Sie erschien so unscheinbar und fehlerhaft. Kein Wunder, dass er sie zuvor nicht bemerkt hatte; sicherlich gab es bessere Welten als diese, die man wählen konnte. Wäre er ein Gott gewesen, hätte er sie vielleicht auch finden können. Aber Travis war kein Gott. Er war ein Mensch. Ein Mensch, der liebte und hasste. Der lachte und weinte. Der Angst verspürte. Und der Hoffnung hatte.
Noch während er sich fragte, wie er seine Entscheidung in die Tat umsetzen sollte, tat er es schon.
Eldh, flüsterte er in den Nebel hinein. Als kommende Welt wähle ich die Welt, die war.
Irgendwo ertönte ein Laut wie eine zuschlagende Tür.
Und dann.
28
Unter einem makellos blauen Himmel schlug Grace Beckett, die Königin von Malachor, die Augen auf.
Eine Zeit lang lag sie einfach nur reglos da, von der Umarmung
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