Die letzte Rune 10 - Der Runenbrecher
verkünden – seine Botschaft –, war er auf die Straßen gegangen und durch die dunkelsten Teile der Stadt gefahren.
Als sein Wagen angehalten hatte, war Kyle eingestiegen; er hatte Carson für einen Freier gehalten. Dann hatte Carson ihm einen anderen Weg gezeigt. Seitdem war Kyle bei ihm. Sie waren alle so loyal – seine Herde, seine Anhänger.
»Wie lange sind Sie nun schon bei mir, Mary?«
Die Stylistin hielt in ihrer Arbeit nicht inne, aber er sah im Spiegel, dass ein Lächeln auf ihren Lippen erschien.
»Im Sommer sind es neunzehn Jahre, Mr. Carson.«
Mary war eine der Ersten gewesen, die zu ihm gekommen waren. Sie hatte für ihn gearbeitet, als er seine erste Show auf einem öffentlichen Kabelkanal gesendet und seine Predigten in einer leer stehenden Tankstelle außerhalb von Topeka getippt hatte. Zuerst hatten ihn die Leute ignoriert, dann hatten sie ihn ausgelacht. Die Geistlichen in ihren tollen Kirchen waren so stolz, so selbstgerecht gewesen. Sie hatten behauptet, er sei kein echter Pastor, er sei ein Scharlatan. Nur weil sie offizielle Dokumente an den Wänden hängen hatten, hatten sie sich für etwas Besseres gehalten.
Nun, er hatte Kansas hinter sich gelassen, und jetzt konnte keiner mehr lachen. Er befahl über die Stahlkathedrale. An jedem Wochentag kamen zweitausend Menschen, um ihn zu sehen. Hunderttausende mehr sahen seine Show. Und seine Samstagssendungen – so wie die heutige – waren die populärsten. Man brauchte keinen Doktortitel, um zu Gott zu sprechen, um für ihn zu sprechen. Man musste nur glauben.
»Sie sind eine gute Seele, Mary«, sagte er.
Ihr Lächeln wurde breiter. Sie war sechzig, nahm er an, aber immer noch hübsch. Sie schien nicht mehr zu altern. Genau wie der junge Kyle Naughton.
»Danke, Mr. Carson.«
»Sie können jetzt gehen, Mary. Ich möchte allein sein, mich vorbereiten.«
Ohne ein Wort zu verlieren, legte sie die Bürste weg, dann verließ sie die Garderobe und schloss hinter sich die Tür.
Carson entfernte das Handtuch von seinen Schultern – behutsam, um den makellosen weißen Anzug nicht zu verunreinigen –, dann betrachtete er sich im Spiegel. Er gönnte sich vor der Show immer zehn Minuten für sich. Das war sein Augenblick, die Gedanken zu sammeln, sein Augenblick, um darüber nachzudenken, was er seiner Herde sagen wollte.
Sein Augenblick, der Großen Stimme zuzuhören.
Carson würde niemals den Tag vergessen, an dem er die Stimme das erste Mal gehört hatte. Sie war in seinem dunkelsten Moment zu ihm gekommen, vor fast genau vier Jahren. Die Ungläubigen in Kansas hatten sich schließlich gegen ihn zusammengetan. Mit der Behauptung, den Kabelkanal für die öffentlichen Schulen zu benötigen, hatten sie ihn an sich gerissen. Und zweifellos würden sie den Kanal dazu benutzen, ihre Lügen über die Evolution zu lehren und den Schülern jene Lektionen in Unzucht zu zeigen, die sie als Aufklärungsunterricht bezeichneten.
Trotz seiner Gebete wurde seine letzte Predigt mitten in der Übertragung unterbrochen. Die Polizei eskortierte ihn und seine Anhänger aus dem Aufnahmestudio. Es war vorbei. Wie so oft in dieser bösen Welt hatten die Ungläubigen gewonnen.
Dann hatte die Große Stimme zu ihm gesprochen.
Im ersten Augenblick hatte er geglaubt, den Verstand zu verlieren. In seiner Verzweiflung war er schwach geworden, und er hatte sich dem Alkohol zugewandt, den er seit der Gründung seiner Kirche nicht mehr angerührt hatte. Aber die Große Stimme sprach noch immer zu ihm: Sie war tief und donnernd. Im Verlauf der nächsten Tage hatte er versucht, sie auszusperren, aber nichts konnte sie aufhalten – kein Baumwollstopfen in den Ohren, keine laute Musik, nicht das trommelnde Wasser einer kalten Dusche. Schließlich hatte er sich auf sein Bett gelegt, und er hatte zugehört.
Ich werde viele Anhänger für dich versammeln, hatte die Stimme gesagt, und obwohl sie in seinem Verstand ertönte, war sie so klar, als würde sie aus dem Radio kommen. Du wirst über eine große Herde befehlen.
»Wie?«, hatte er gewagt der von Wasserflecken übersäten Decke des Motels zuzuflüstern, in dem er sich verkrochen hatte. Sein Herz hatte vor Sehnsucht geschmerzt; er hatte glauben wollen. »Wie soll das jetzt noch geschehen?«
Du musst an mich glauben, sagte die Stimme. Und du musst das tun, was ich dir sage.
Das hatte er getan. Als Erstes hatte ihm die Große Stimme befohlen, seine Sachen zu packen, die wenigen Anhänger, die ihm folgen
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