Die letzte Rune 10 - Der Runenbrecher
Wohltätigkeit in die Kathedrale locken konnte. Carson war es mittlerweile egal, ob sie Ehemänner und Ehefrauen, Söhne und Töchter hatten. Jeder, der schwach und verloren genug erschien, den man überreden konnte, dass etwas Besseres als dieses Leben auf ihn wartete, wurde den Engeln des Lichts zugeführt. Die Berichte über die Vermissten waren überall in den Nachrichten.
»Sprich zu mir«, flüsterte Carson und blickte in den Spiegel.
Der Mann, der zurückschaute, hatte etwas Altersloses, leicht Künstliches an sich, so als wäre das dicke Make-up, das er all die Jahre getragen hatte, durch die heißen Bühnenscheinwerfer mit seinem Gesicht verschmolzen.
»Bitte«, flüsterte er. »Sag mir, was ich tun soll.«
Schweigen. Er starrte den Spiegel an. Da – Mary hatte eine Haarlocke übersehen. Sie stand hervor. Er nahm die Bürste, aber seine Hand zitterte. Mehr Haare sträubten sich, fielen aus der Reihe. Er würde Mary noch einmal hereinrufen müssen.
Mehr, sagte die Stimme in seinem Bewusstsein. Ich will mehr.
Die Bürste entglitt seinen Fingern und fiel klirrend zu Boden.
»Ich kann nicht«, murmelte er. »Die Polizei wird misstrauisch. Ich habe gestern einen Anruf von einem Beamten erhalten. Ein Sergeant Otero.«
Die Männer von Duratek werden sich um diesen Sergeant Otero kümmern. Das Ende aller Dinge kommt bald. Du hast nichts zu befürchten, solange du mir treu bist.
Carson klammerte sich an den Stuhllehnen fest. »Ich bin dir immer treu ergeben gewesen.«
Ja, also lass mich jetzt nicht im Stich, wenn meine Zeit so nahe ist. Eine große Schlacht naht, wie sie diese Welt noch nie gesehen hat. Bald werden mir meine Diener den Weg öffnen, und wenn sie das tun, muss ich eine Armee an meiner Seite haben.
Eine Pause trat ein, eine gesegnete Stille. Die Engel des Lichts kommen. Stell noch mehr Menschen für sie bereit. Bring sie nicht dazu, dass sie dich an ihrer Stelle nehmen.
Ein Rauschen dröhnte in seinen Ohren, er krümmte sich zusammen. Übelkeit ließ seine Eingeweide verkrampfen, und in seinem Kopf drehte sich alles, so wie immer, wenn die Große Stimme zu Ende gesprochen hatte.
Als die Benommenheit größtenteils verflogen war, setzte er sich auf und drehte den Stuhl zu dem Fernseher in der Wand herum. Das hausinterne System zeigte ein Bild des zur Hälfte gefüllten Auditoriums; seine Herde versammelte sich bereits. Er tastete nach einer Fernbedienung und drückte einen Knopf.
Das Bild auf dem Fernseher wechselte und zeigte eine andere Ansicht des Auditoriums: lächelnde Menschen mit erwartungsvollen Gesichtern, hoffnungsvoll. Nein, sie sahen aus, als würde man sie lieben, als würde man sie vermissen. Das würde nicht gehen. Er konnte kein weiteres Interesse seitens der Polizei riskieren, ganz egal, was die Große Stimme sagte. Carson drückte den Knopf wieder und wieder.
Er hielt inne. Jetzt zeigte das Bild zwei unrasierte Männer in nicht zusammenpassender Kleidung, die im Hintergrund des Auditoriums saßen, ein kleiner, dicker, kahlköpfiger Bursche, dessen Gesicht zu einem permanenten finsteren Starren verzogen war, und ein hagerer Mann, dessen Gesicht friedlich war und dessen Hände gefaltet im Schoß lagen.
Carson legte die Fernbedienung zur Seite. Erleichterung durchfuhr ihn, und er schloss die Augen. Diese beiden Burschen, sagte er zu der Finsternis in seinem Verstand und stellte sich die beiden Obdachlosen vor. Nimm diese beiden.
Er öffnete die Augen. Das war es. Eisenherzen würden zu den beiden im Publikum gehen, ihnen mitteilen, dass man sie für ein besonderes Treffen ausgewählt hatte, und sie fortführen. Sie würden sich nicht weigern; das tat nie einer. Wer wollte schließlich nicht mal einen Engel kennen lernen?
Carson hob eine zitternde Hand und versuchte, die hervorstehenden Haare zurückzustreichen, aber er machte die Sache nur noch schlimmer. Schweißperlen überzogen sein Make-up; es fing an zu verlaufen. Mary würde nachpudern müssen. Ja, er würde Mary rufen müssen.
Carson streckte die Hand aus, aber statt nach dem Telefonhörer zu greifen öffnete er eine Schublade. Darin befand sich ein großer Umschlag. Er öffnete ihn und holte ein Röntgenbild hervor. Er hielt es gegen die Lampen, die den Spiegel umgaben.
Er konnte sein Rückgrat sehen, die Rippen, das Herz und die schimmernden Umrisse seiner Lungen, die wie Engelsschwingen aussahen. Aber eine Schwinge wurde von einem dunklen Schatten entstellt.
Die Ärzte hatten es vor einem Jahr entdeckt. Sie
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