Die letzte Schoepfung
ein wenig abgerissen aus, trug die Haare zu lang und hatte sich mindestens zwei Tage nicht rasiert. Er trug staubige Jeans, abgewetzte Stiefel und ein verwaschenes Denimhemd. Lässige Kleidung hatte er zwar immer bevorzugt, war jedoch stets sehr gepflegt gewesen. Nun aber wirkte er erschöpft und so zerknittert wie seine Kleidung. Seine Augen aber hatten sich nicht verändert, sie waren immer noch von jenem strahlenden Blau, das er ihrem gemeinsamen Sohn vererbt hatte.
Die Erinnerung an Nicky entfachte Sydneys Wut von neuem. »Was willst du hier? Weißt du, wie spät es ist?« Ihre Fragen klangen absurd, wenn man bedachte, was sie beide durchgemacht hatten, aber etwas Besseres wollte ihr nicht einfallen. »Wer sind diese Kinder?«
Ohne etwas zu erwidern, ging Ethan durchs Zimmer zu den gläsernen Schiebetüren vor dem Balkon und prüfte die Schlösser. »Gibt es hier einen Hintereingang?«
»Ja, aber…« Sie lief ihm nach, während er in Richtung Küche und Hintertreppe ging. »Ethan, hör sofort damit auf, und sag mir, was los ist!«
»Keine Zeit.« Seine Stimme war schneidend, befehlend. »Zieh dich an. Wir müssen hier raus, so schnell es geht.«
»Raus?« Sie standen im Wohnzimmer, wo die Kinder sich auf die Couch geworfen hatten. »Was redest du denn da?«
»Du bist in Gefahr, Sydney.«
»Das ist ja lächerlich!« Sie verschränkte die Arme vor der Brust und warf einen hastigen Blick auf die Kinder, bevor sie sich wieder Ethan zuwandte. »Ich glaube, du solltest so schnell wie möglich gehen.«
»Wir haben keine Zeit, uns zu streiten. Zieh dir was an.«
Es machte sie rasend. Da kam er hier hereingestürmt wie ein Verrückter und rief Befehle. »Ich weiß nicht, was für ein Spiel du da spielst, Ethan«, sie drehte ihm den Rücken zu, »aber ich rufe jetzt die Polizei.«
Er packte sie am Arm. Die Berührung brachte sie zum Zittern; eine solche Reaktion hatte sie nicht erwartet. »Das ist kein Spiel, Sydney. Du hast zwei Möglichkeiten: Du kannst mit mir kommen, oder du kannst hier warten, bis du umgebracht wirst.«
Für einen Moment wurde ihr eiskalt vor Angst, doch als sie in seine Augen sah, stieg stattdessen heiße Wut in ihr auf. Er hatte kein Recht, hier zu sein und Hand an sie zu legen. Dieses Privileg hatte er vor drei Jahren aufgegeben, als er aus dem Haus gegangen und nie zurückgekehrt war.
»Lass mich los!« Demonstrativ blickte sie auf seine Hand, die immer noch auf ihrem Arm lag. Und sah die Pistole.
Sydney erstarrte.
Nun seinerseits erschrocken, ließ Ethan sie los und trat einen Schritt zurück. »Tut mir Leid.« Er schob die Waffe am Rücken in den Bund seiner Jeans. »Es war 'ne lange Nacht.« Sydney sah, wie seine Hände zitterten, als er sich durch die Haare fuhr und sie aus dem Gesicht strich. »Hör mal, Syd, es tut mir Leid, wenn ich dir Angst gemacht habe, aber es ist wahr: Du bist in Gefahr!«
Sie versuchte es mit einer rationalen Frage. »Wer sind diese Kinder?«
»Ich bin Danny«, stellte der Junge sich vor. »Und das ist meine Schwester Callie.«
Sydney rang sich ein Lächeln ab. »Ich bin Sydney.«
»Das wissen wir schon«, sagte das Mädchen mit einem so vertrauensvollen Lächeln, wie nur kleine Kinder es zu Stande bringen. »Ethan hatte es sehr eilig herzukommen. Er hat sich Sorgen um Sie gemacht.«
Sydney wusste nicht, wie sie darauf reagieren sollte. Warum sollte Ethan sich ausgerechnet Sorgen um sie machen? Eine Frage, über die Sydney nicht einmal nachdenken wollte, deshalb konzentrierte sie sich wieder ganz auf die Kinder. Das Mädchen war ein liebliches Geschöpf, ein wahrer Engel, mit einem zarten, hübschen Gesicht. Der Junge war äußerlich das Gegenteil; er war so dunkel, wie das Mädchen hell, doch auch er war auf seine Weise hübsch. Wer waren die beiden? Und was hatten sie mit Ethan zu tun?
»Sydney«, sagte Ethan, und sie drehte sich wieder zu ihm um. »Wir haben keine Zeit für so was.« Er wirkte nun ruhiger, auch wenn es schien, dass er sich zur Ruhe zwang. »Ich erkläre dir später alles, aber du musst mir jetzt einfach glauben! Es gibt einen Mann, einen sehr gefährlichen Mann, der auf dem Weg hierher ist. Also zieh dir bitte etwas an, und lass uns von hier verschwinden.«
Sydney merkte, dass sie sich getäuscht hatte: Nicht einmal mehr seine Augen waren wie früher. In diesen Augen, an Ethan selbst, war etwas, das ihr Angst machte und das sie nie zuvor an ihm wahrgenommen hatte.
Sie fand es am einfachsten, ihm zu gehorchen, und nickte
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