Die letzte Schoepfung
Baum geklettert war, um einen Jungvogel wieder ins Nest zu setzen, wobei er heruntergefallen war und sich das Genick gebrochen hatte. Und seinen Eltern das Herz.
Der Schmerz grub tiefe Falten in Ethans Gesicht. »Nicky wäre auch so geworden wie Danny. Ich glaube, er hätte sich auch um die Kleineren gekümmert.«
Und genau das tat Ethan, ging es Sydney schuldbewusst durch den Kopf. Okay, sie war wütend auf ihn gewesen, als er in ihr Leben geplatzt war und sie aus ihrem Heim gezerrt hatte. Wer wollte ihr daraus einen Vorwurf machen? Dieser Überfall war zu überraschend gekommen. Doch wenn er glaubte, dass sie in tödlicher Gefahr war, würde er alles tun, um sie zu beschützen. Das lag in seinem Wesen. Er besaß Ritterlichkeit, die Sydney stets liebenswert, wenn auch etwas altmodisch gefunden hatte. Aber jetzt war gewiss nicht der Zeitpunkt, ihn wegen dieser Eigenschaft zu kritisieren.
»Gehen wir hinein«, sagte sie. »Dann kann ich mich um deinen Arm kümmern, und du erzählst mir den Rest der Geschichte.«
»Geh du rein. Ich muss erst den Wagen verstecken und mich in der Umgebung umsehen.«
Sydney wollte etwas entgegnen, überlegte es sich dann aber anders. Vielleicht war es besser, der Vergangenheit zunächst allein entgegenzutreten. »Ob es Danny und Callie da draußen gut geht?«
»Ich bringe sie mit rein.«
Sie nickte und wartete, bis er um die Hausecke verschwunden war. Dann betrat sie mit einem schicksalsergebenen Seufzer die Lodge. Sie ging durch die Küche und den Speisesaal zur Rezeption, blieb jedoch am Eingang zur hohen Halle stehen, dem Herzen des Gebäudes.
Im Tageslicht wirkte der Raum anders, doch immer noch vertraut. Wie früher waren die riesigen Ledersessel mit Decken umhüllt, die wuchtigen Holztische und Bücherregale abgeräumt und die Teppiche zusammengerollt und irgendwo verstaut.
Sydney ging zu den Fenstern. Der intensive Geruch der Holzwände drang durch den psychischen Schutzwall, den sie um sich errichtet hatte. Sie kämpfte dagegen an, versuchte nicht auf die Einflüsterungen der Erinnerung zu hören. Auf der Veranda schaukelte ein leerer Liegestuhl, und der See schimmerte im Morgenlicht. Ein einsames Segelboot glitt übers Wasser.
Als Sydney das letzte Mal hier gestanden hatte, war ihr Leben noch völlig anders gewesen. Sie war jung und verliebt, voller Träume und Hoffnungen für die Zukunft. Ethan und sie waren eine Welt füreinander, und in diesem Zimmer hatten sie keinen anderen Menschen gebraucht.
Die Erinnerung riss die Mauer ihres Widerstands nieder. Wieder sah sie den großen Raum im Mondlicht vor sich, spürte, wie der kalte Nachtwind ihre nackte Haut streichelte, und hörte Ethans Stimme, seine sanfte, zitternde Stimme, als er sie auf die Couch bettete.
»Lass uns nicht mehr warten«, hatte er gesagt. »Ich will eine Familie haben. Mit dir.«
Seine Worte waren in ihr Herz gedrungen und hatten ihren gemeinsamen Entschluss, mit Kindern noch zu warten, weggewischt. Sydney hatte Ethan an sich gezogen, und dann vermischten sich ihre Empfindungen: seine kräftigen Hände, die sie streichelten, erregten. Sein Mund, der lockte, forderte. Seine Kraft, über ihr, auf ihr, in ihr. Und die Gewissheit, als sie seinen Namen in die kühle Dunkelheit der verlassenen Lodge rief – die Gewissheit, dass sie ein Leben gezeugt hatten. Ihr Kind.
In jener Nacht hatte Sydney geglaubt, nichts könne sie jemals trennen. Sie würden immer zusammen sein.
Sie schauderte. Was für ein Dummkopf sie gewesen war!
»Sydney, was ist mit dir?«
Sie wandte sich vom Fenster ab. Ethan stand unter der Tür. Mitleid und Vorsicht überschatteten sein Gesicht. Sydney wollte zuerst lügen – jene Art höflicher Lüge, die alle Beteiligten beruhigt. Doch all das Schlimme, das sie hinter sich hatten, verlangte nach der Wahrheit.
»Es geht mir nicht gut«, sagte sie. »Es geht mir schon lange nicht mehr gut.«
Ethan trat einen Schritt auf sie zu, doch sie hob eine Hand, um ihn aufzuhalten. Es gab da etwas, das sie wissen musste, und es war überfällig, dass er es ihr sagte.
»Warum hast du mich verlassen, Ethan?«
9.
Ihre Frage ließ ihn erstarren.
Nun fiel Ethan zum ersten Mal, seit er in ihre Wohnung gestürmt war, die Veränderung an Sydney auf. Sie war dünner geworden. Die Zeit oder vielleicht die Trauer hatten ihre Wangen ausgehöhlt und feine Fältchen um die Augen gegraben. Sie hatte ihr langes dunkles Haar kürzer schneiden lassen; es stand ihr gut, ebenso wie die schlankere Figur.
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