Die letzte Schöpfung
Dann zählte er langsam bis drei und sprang mit der vorgestreckten Beretta um die Motorhaube herum.
Plötzlich wischte etwas an seinem Bein entlang und stieß ein grelles Jaulen aus. Marco schrak zurück, sein Finger war nur noch um Haaresbreite vom Abzug entfernt. Dann blieb er wie angewurzelt stehen.
» Miauuu !«
Ein magerer gelber Kater schoss unter dem nächsten Wagen hervor.
Mit verlegenem Lachen senkte Marco die Pistole. »Was bist du nur für ein tapferer hombre!« Er steckte die Waffe wieder in den Halfter. »Jagst einen Señor gato .«
Er trat einen Schritt vor, um zu sehen, was die Katze in die Enge getrieben hatte. Ein rattenähnliches Geschöpf kauerte unter den Stützen eines Stahlträgers. Zuerst dachte Marco, es sei eine Feldmaus vom leeren Grundstück hinter dem Haus. Dann sah er, dass es ein anderer Nager war – die Sorte, die von reichen Kindern im Käfig gehalten wird. Das Tier sah ähnlich aus wie die Ratten, die Marco früher in Los Angeles für Zielübungen benutzt hatte.
Das Tier musste aus seinem Käfig entwichen sein. Hier draußen hatte es so gut wie keine Chance. Falls es der Katze entwischte, würde ein anderes Raubtier oder ein heranbrausender Wagen sein Leben beenden.
Marco ging näher heran. Der Kater fauchte wütend. Mit einem gezielten Tritt beförderte er ihn zur Seite. Er würde der Katze ihre Beute wegnehmen, und die war natürlich nicht glücklich darüber. Marco kniete vor dem kleinen Tier nieder, sah die Todesangst in dessen Augen, die nervös zuckenden Pfoten. Er hatte dem Tod zu oft in die Augen gesehen, um ihn nicht sofort zu erkennen. Zwischen den Augen dieses kleinen Nagers und den Augen der von ihm getöteten Menschen gab es kaum einen Unterschied.
Mit der Angst kannte Marco sich aus; Angst verstand er – ebenso wie die Ehre, die seiner Meinung nach bei der Jagd genauso beachtet werden sollte.
»Chiquitin, du bist dem Señor gato nicht gewachsen.« Er streckte eine Hand aus. »Er sollte sich schämen, so was wie dich überhaupt zu jagen.«
Das kleine Tier schnüffelte an Marcos Fingern und erkannte offenbar den vertrauten Menschengeruch.
»Komm!« Marco nahm den kleinen Körper hoch. »Die Katze muss sich eine andere Beute suchen.«
Auf dem Weg zum Wagen sprach er dem Tier beruhigend zu. Ein Fastfoodkarton, in dem Marcos Abendessen gewesen war, gab nun ein passendes Schlafkästchen für den Nager ab; übrig gebliebene Salatblätter und Tomatenstücke würde er vertilgen. Bestimmt gab es eine Zoohandlung, die Marcos Schützling mit Freuden nahm. Vorerst rollte das winzige Geschöpf sich zusammen und hielt ein Nickerchen.
Marco nahm seinen Wachposten wieder ein. Dabei dachte er an die vergangenen drei Jahre. Während dieser Zeit hatte er nur ein Ziel gehabt – die zu strafen, die ihn hatten töten wollen und stattdessen ein Kind umgebracht hatten. Ein Mädchen, an dem sein Herz gehangen hatte. Ein unschuldiges Kind unter seinem Schutz.
Zuerst war er vor Trauer fast verrückt geworden, dann aber war Rache sein Trost gewesen. Er hatte das Team verfolgt, hatte sich einen nach dem anderen geholt, hatte jeden Einzelnen seine Schuld bezahlen lassen. Nur Anna Kelsey war ihm durch die Maschen gegangen. Doch Marco hatte Geduld und wusste, dass er sie letzten Endes finden würde.
Und dennoch – während er seinen Rachedurst mit Blut stillte, erkannte er, dass Rache allein nicht ausreichte. Er hatte sein Leben der Firma gewidmet; sie war ihm so etwas wie eine Familie gewesen, und plötzlich hatte sie sich gegen ihn gestellt. Er musste wissen, warum.
Doch so wie die schwer fassbare Anna Kelsey, waren Antworten nicht leicht zu finden. Deshalb ging Marco in den Untergrund und verkaufte seine Informationen an den jeweils Meistbietenden, da in seiner Welt für Geld alles zu haben war. Besonders Informationen. Dann hatten ihn Gerüchte und das Kind, das er verloren hatte, zu einer Privatinsel am Nordende des Puget Sound geführt, Haven Island, einer Insel voller Kinder, die dieses Eiland niemals verließen.
Außer einem – dem Mädchen, das Marco hatte beschützen sollen. Und das nun tot war.
Marco hatte sich an den Docks von Anacortes herumgetrieben, hatte Erkundigungen eingezogen und überlegt, wie er zu der Insel gelangen sollte, als er zufällig Anna Kelsey sah. Sein erster Impuls war, sie zu töten, doch im letzten Augenblick entschied er sich anders: Er wollte sie lieber benutzen. Sie musste die Antworten auf viele seiner Fragen wissen.
Sechs Monate hatte er
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