Die letzte Schöpfung
Sydney und hielt sich fern von ihr, denn er wusste, dass Ramirez zu seinem Wort stehen würde.
Doch jetzt hatte Anna mit einem einzigen Anruf Sydney in dieses wahnsinnige Spiel hineingezogen. Alles hatte sich auf einen Schlag verändert.
»Mr. Decker?«, hörte er Callies verängstigtes Stimmchen. »Geht es Ihnen nicht gut?«
Ethan schaute hinunter auf das kleine Mädchen, doch er brachte kein Wort hervor. Warum sollte Anna ausgerechnet Sydney anrufen? Und was hatte das mit den Kindern zu tun? Fast hätte er Callie die Wange gestreichelt, hielt dann jedoch in der Bewegung inne.
Der Kreis hatte sich geschlossen.
Die Fähigkeit zur Jagd war ihm angeboren. Der Dienst in der Spezialeinheit des Heeres hatte diese Begabung gefördert, die Firma hatte sie geschärft, und Übung hatte ihr den letzten Schliff verliehen. Doch wegen dieser Fähigkeit – oder weil er sich zu ihrer Anwendung entschlossen hatte –, hatte sein Sohn sterben müssen. Und nun war Sydneys Leben wieder in Gefahr.
Es war verrückt zu glauben, er könne seinem Schicksal entrinnen. Für einen Mann wie ihn gab es keinen Ausweg; er konnte nur versuchen, die Unschuldigen zu retten.
»Steigt ein«, sagte er zu den Kindern. »Wir fahren nach Dallas.«
5.
Marco Ramirez hatte Dallas immer wie eine schlanke, junge Frau mit attraktiven Formen empfunden – eine gut aussehende Edelhure, die am Tag auf Kundenfang ging und nachts bereitwillig die Beine breit machte. Für die Wohlhabenden war diese Stadt fantastisch, für die Normalsterblichen war sie ein unerfüllbarer Traum, eine Versuchung, die ihre Möglichkeiten überstieg.
Das Haus, in dem Sydney Decker wohnte, bildete da keine Ausnahme. Es war ein hohes Gebäude aus Stahl und Glas im Herzen des Finanzviertels, ein Haus für Menschen mit hohen Ansprüchen, für die sie gern bezahlten. Die Privatsphäre wurde über alles gestellt; Marco Ramirez bezweifelte, dass Mrs. Decker andere Bewohner ihres neuen Domizils kannte.
Der Gedanke brachte ihn zum Grinsen.
Was für ein Unterschied zu dem schäbigen Haus in der Vorstadt mit den neugierigen Nachbarn, das sie einst mit ihrem Mann und dem kleinen Sohn bewohnt hatte. In Marcos Augen war Sydney Decker die Erfolgsleiter ein gutes Stück hinaufgeklettert.
Er nippte an seinem heißen Kaffee, rutschte ein wenig tiefer in den Ledersitz des gemieteten Mercedes und richtete sich auf eine lange Wartezeit ein. Eine Stunde saß er bereits hier und beobachtete Sydney Deckers Domizil von seinem Versteck in einem Parkhaus. Er würde so lange warten wie nötig. Die ganze Nacht, wenn es sein musste.
Bis Ethan Decker auftauchte.
Es war nicht nötig gewesen, Ethan von New Mexico bis Dallas zu folgen. Marco wusste, dass er früher oder später hier auftauchen musste. Der Mann hatte immer zu viel von einem Pfadfinder an sich gehabt, sodass seine nächsten Schritte leicht vorherzusagen waren. Sobald Marco diese Anna Kelsey erledigt hatte, würde Decker sich zum Beschützer der Kinder aufschwingen. Das brachte ihn wieder ins Spiel und seine Exfrau in Gefahr. Also würde er nach Dallas kommen, um vor Marco bei Sydney zu sein. Das Komische war nur – obwohl Decker das Rennen verloren hatte, interessierte Marco sich im Augenblick gar nicht für die Frau.
Sondern für die Kinder.
Sie waren das fehlende Glied, der Schlüssel zu all den Fragen, die ihn während der letzten drei Jahre gequält hatten.
Plötzlich sah er im Augenwinkel eine Bewegung und erstarrte. Langsam griff er nach seiner Beretta und zog sie aus dem Halfter unter dem Arm. Geduckt rutschte er über den Beifahrersitz und glitt aus dem Wagen.
Decker?
Möglich. Obwohl er ihn nicht so früh erwartet hatte.
Geduckt schlich Marco am Wagen entlang bis zur hinteren Stoßstange, die Waffe im Anschlag. Ein halbes Dutzend Parkbuchten entfernt hörte er ein leises Kratzen auf dem kalten Beton.
Marco überlegte.
Das war nicht Decker. Vielleicht ein paar Kids, die Radkappen klauen wollten. Das war den Einsatz nicht wert. Aber Marco hätte nicht so lange überlebt, hätte er sich aufs Rätselraten verlassen. Alle Sinne angespannt, schlich er an der Reihe der Wagen entlang, näherte sich dem Geräusch.
Der Laut kam Ramirez immer seltsamer vor. Er konnte ihn nicht einordnen. Er hielt inne, lauschte angestrengt. Nein, es klang nicht so, als würden Radkappen abmontiert, oder als würde ein Dieb am Türschloss hantieren.
Es war kein erkennbarer Laut, nur ab und zu ein Kratzen.
Marco atmete tief ein, zwang sich zur Ruhe.
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