Die Letzte Spur
geschafft hatte.
Kurz vor der Haustür hielt sie inne, um ihren Schlüssel aus der Tasche zu kramen. Es war völlig dunkel, sie konnte nichts sehen, aber urplötzlich blitzte eine Taschenlampe auf und leuchtete ihr ins Gesicht.
Sie hob den Kopf, wollte schreien. Und brachte keinen Laut hervor.
Sonntag, 10. Februar
1
Es überraschte Rosanna zu sehen, dass Cedric wieder rauchte.
»Als wir … bei Mummys Beerdigung hattest du es dir abgewöhnt«, sagte sie.
Er nickte und nahm einen tiefen, genießerischen Zug. »Irgendwann um Weihnachten herum ging es wieder schief. Du weißt schon, ständig Weihnachtsfeiern und der ganze Mist. Die anderen rauchen, und irgendwie fängst du dann auch wieder an.«
»Ich dachte, in Amerika kann man gar nicht anders, als enthaltsam zu leben. Dort ist das Rauchen doch inzwischen fast überall verboten.«
Cedric grinste. »Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Je mehr Verbote, desto mehr Schlupflöcher. Oder glaubst du, während der Prohibition wurde weniger gesoffen als davor und danach?«
Sie betrachtete ihren großen Bruder mit einem liebevollen Lächeln. Sie rechnete es ihm hoch an, dass er zum Geburtstag seines Vaters extra aus New York angereist war, obwohl sie insgeheim mutmaßte, dass dies nicht in erster Linie mit einer Fürsorglichkeit dem frischgebackenen Witwer gegenüber zu tun hatte, sondern mit seiner eigenen Einsamkeit. Cedric lebte ein wildes, oberflächliches Leben, das er einerseits zu brauchen schien, das ihm andererseits nicht allzu gut tat. Bei der Beerdigung seiner Mutter im vergangenen Herbst hatte ihn eine Freundin begleitet, ein Mädchen mit dramatisch geschminkten Augen, das kaum dem Teenageralter entwachsen war. Er hatte sie als meine Lebensgefähr tin vorgestellt. Die Geschichte schien sich bereits wieder erledigt zu haben, aber Rosanna hatte auch nichts anderes erwartet. Cedrics bisher längste Beziehung hatte ein halbes Jahr gedauert, alle anderen waren noch eher zerbrochen. Er war achtunddreißig. Rosanna fand, dass es höchste Zeit für ihn war, seinen Platz im Leben zu finden. Eine Familie zu gründen und eine innere Heimat zu haben.
»Willst du?«, fragte Cedric nun und hielt ihr seine Zigarettenschachtel hin. Sie schüttelte den Kopf. »Nein danke. Ich bleibe standhaft.«
»Dein lieber Dennis würde dir auch was erzählen, stimmt's? Frauen, die rauchen, passen garantiert nicht in sein konservatives Weltbild!« Cedric hatte seinen Schwager vom ersten Moment an nicht leiden können, und diese Abneigung wurde von Dennis aus ganzem Herzen erwidert. Verschiedener als die beiden konnten zwei Männer allerdings auch kaum sein.
Sie standen in Hazels Garten. So hatten sie ihn immer genannt, Hazels Garten, obwohl er natürlich der ganzen Familie gehört hatte und von allen benutzt worden war. Aber Hazel hatte den Garten geliebt, gepflegt und ihm sein unverwechselbares Gesicht gegeben. Sie hatte Bäume, Büsche und Blumen gepflanzt. Ihr war es zu verdanken, dass die etwas düstere Mauer, die das Grundstück umschloss, vollständig unter Efeu verschwand, und dass man sich im Spätsommer im hinteren Teil des Gartens mit Obst vollstopfen konnte: Brombeeren, Stachelbeeren und Johannisbeeren, und natürlich Äpfel, Birnen und Pflaumen, so viel man nur wollte. Wenn Rosanna sich an ihre Mutter erinnerte, so hatte sie immer das Bild einer Frau vor Augen, die, in Gummistiefeln oder Sandalen, zwischen ihren Pflanzen herumstapfte und jeden Besucher, ganz gleich, wie zufällig er hereinschneien mochte, mit irgendeinem Geschenk aus ihrem Garten beglückte: mit ein paar langen, blühenden Zweigen für eine Bodenvase, einem Strauß dicker, glänzender Tulpen, einer einzelnen Rose, die unnachahmlich duftete. Hazel hatte gern geschenkt. Es war schwer vorstellbar, dass sie nie mehr zwischen den Bäumen auftauchen und sich mit einem Lächeln auf dem Gesicht ihrem Haus nähern würde.
An diesem trüben, grauen Februarsonntag hatte es in den frühen Morgenstunden geschneit, einen späten, nassen, schweren Schnee, der jetzt am Mittag bereits wieder wegzutauen begann. Die Grashalme stachen aus dem Weiß hervor, ebenso die vielen lilafarbenen und gelben Krokusse, die überall auf der Wiese schon zu blühen begonnen hatten. Es war ein trauriges Bild, das Verlassenheit und Schwermut auszudrücken schien.
Der Garten ist verlassen, dachte Rosanna, verlassen von Hazel. Wie wir alle. Heute besonders.
Sie ging auf Cedrics Provokation, Dennis betreffend, nicht ein, sondern hob
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