Die Letzte Spur
Die drei oder vier Besucher, die heute zu erwarten waren, würde die Aushilfe leicht bewältigen. Selbst am Abend zuvor, dem Samstag, war nicht allzu viel los gewesen, aber Justin hatte sich aufgeführt, als gehe seine Existenz den Bach hinunter, weil sie da bereits abgesagt hatte.
»Gestern meinten Sie, heute wären Sie wieder auf dem Damm«, knurrte er.
»Ich habe es gehofft. Aber mir ist heute immer noch furchtbar schlecht«, erwiderte sie. »Vielleicht habe ich doch nichts Falsches gegessen, sondern mir ein Virus eingefangen.«
»Kann man nichts machen«, sagte Justin grimmig und legte den Hörer auf.
»Sie sehen wirklich nicht gut aus«, meinte Mr. Cadwick, der Vermieter, mitfühlend. Sie hatte ihn, wie schon am Vortag, bitten müssen, von seinem Apparat aus telefonieren zu dürfen, da sie selbst kein Telefon hatte. Sie hatte gewusst, dass er jedem Wort des Gesprächs aufmerksam lauschen würde, aber sie hatte auch gewusst, dass er ihr das Märchen von der Magenverstimmung, die womöglich sogar eine ernsthafte Magen-Darm-Grippe war, sofort abkaufen würde. Sie hatte noch immer eine ungesunde Gesichtsfarbe und tiefe Ringe unter den Augen.
»Mir geht es auch nicht besonders gut«, sagte sie. Sie wollte wieder nach oben in ihre Wohnung. Die Tür hinter sich verriegeln, sich im Bett zusammenrollen. Sich jetzt bloß nicht dem fürsorglichen Geplapper Mr. Cadwicks aussetzen. Als sie mit der Miete im Rückstand war, hatte er sie an die Luft setzen wollen. Seitdem sie wieder regelmäßig zahlte und den guten Job im Elephant hatte, machte er auf Freundschaft. Klar, für das dunkle Loch da oben würde er nicht so schnell jemanden finden, wer zog schon nach Langbury und vergrub sich dann auch noch in der finstersten Ecke des ganzen Ortes? So viele Neurotiker liefen auf dieser Welt nicht herum, dass ihm rascher Ersatz garantiert war.
»Sie sollten zum Arzt gehen«, schlug Mr. Cadwick vor, »Sie sehen geradezu erbärmlich aus, wenn ich das sagen darf. Man sollte solche Geschichten nicht auf die leichte Schulter nehmen.«
»Ich brauche bloß noch einen Tag im Bett, dann geht's schon wieder«, beteuerte sie.
»Soll ich einen Tee für Sie kochen? Es gibt doch niemanden, der sich um Sie kümmert! Haben Sie überhaupt etwas zu essen daheim?«
Hätte sie ihn während der Zeit ihrer Zahlungsrückstände nicht so knallhart erlebt, sie hätte jetzt direkt ein dankbares Gefühl empfinden können. Obwohl sie ihn einfach nur schleimig fand. Mr. Cadwick war bald siebzig Jahre alt, unverheiratet, und vielleicht tat sie ihm unrecht, aber oft hatte sie den Eindruck, dass er sie mit ausgesprochen lüsternen Blicken verfolgte. Sie war sich sicher, dass er in seinem stickigen, ungelüfteten Wohnzimmer, in dem der jahrealte Dunst ungezählter Mahlzeiten zwischen den Wänden zu hängen schien, regelmäßig Pornovideos anschaute, obwohl sie auch darauf keinen Hinweis hatte. Er war einfach der Typ dafür. Zweimal im Monat machte er sich mit Bus und Bahn auf den Weg nach Newcastle, ohne irgendetwas darüber verlauten zu lassen, was er dort tat. Sie war überzeugt, dass er ein Bordell besuchte. Und dass er auf perverse Sexspiele stand. Sie roch das förmlich. Ihr Unbehagen ihm gegenüber war auch der Grund, weshalb sie jeden Abend eine kleine Kommode unter die Klinke ihrer Wohnungstür schob. Mr. Cadwick besaß einen Zweitschlüssel. Sie hatte keine Lust, eines Nachts davon aufzuwachen, dass er neben ihrem Bett stand und sich einen runterholte.
»Ich habe genug zu essen, danke«, behauptete sie, obwohl es nicht stimmte, »aber, ehrlich gesagt, ist mir im Moment nicht sehr danach. Ich muss jetzt einfach diese blöde Geschichte auskurieren, dann ist wieder alles in Ordnung. Danke fürs Telefonieren, Mr. Cadwick.« Sie wandte sich zum Gehen.
»Wenn Sie Hilfe brauchen …«, rief er ihr noch hinterher, ehe er allein und frustriert in seinem trostlosen Sonntag zurückblieb.
Aber sein trostloser Sonntag ist nicht mein Problem, dachte sie, während sie, oben angekommen, aufatmend die Wohnungstür hinter sich schloss und sofort die Kommode davorrückte, mein Leben besteht überhaupt nur noch aus trostlosen Tagen, und wen kümmert das?
Es ging ihr besser, kaum dass sie sich in Sicherheit fühlte. Sie hatte zwei Tage gewonnen, die sie hier eingeschlossen verbringen konnte, denn am morgigen Montag hatte The Elephant seinen Ruhetag. Danach musste sie allerdings wieder auf der Matte stehen, und sie konnte nur hoffen, dass es ihr gut genug ginge, um
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