Die Letzte Spur
herauf.
Jemand, der sich Mühe gab, dabei nicht gehört zu werden.
Lautlos wich sie einen Schritt zurück. Im ersten Moment war sie versucht, seinen Namen zu rufen.
Marc? Bist du das? Ich bin hier oben!
Ihr Instinkt riet ihr, den Mund zu halten.
Wer auch immer es war – weshalb schlich er sich an?
Die Erkenntnis, dass ihr der Weg versperrt war, traf sie in ihrer ganzen Wucht wie ein Schlag in den Magen. Sie saß hier oben wie ein Kaninchen in der Falle. Rob und Marina würden die Polizei rufen. Wie lange würde es dauern, bis die Beamten hier waren? Würden Rob und seine Mutter auf eigene Faust nach ihr suchen?
Sie wollte schreien, aber sie brachte keinen Ton hervor. Sie hörte es jetzt deutlich und war ganz sicher: Es war jemand auf der Treppe.
Die Wände aus Segeln nahmen sie schützend auf. Grobes Leinen kratzte an ihren Wangen. Eine Menge Gerüche mischten sich in diesem Dunkel: Wasser, Holz, Maschinenöl, Reinigungsmittel, Moder. Sie zog sich tiefer zurück.
Der andere – Marc? – war oben angekommen. Sie konnte hören, dass er verharrte. Sich zu orientieren suchte. Seine Augen mussten sich erst an das fahle Dämmerlicht anpassen. Ihre Augen hatten das bereits hinter sich, was ihr einen Vorsprung gab. Der ihr am Ende womöglich nichts bringen würde. Denn irgendwann stand sie an der Wand. Oder schlug sich unaufhörlich durch das Labyrinth der Segel. Bis der andere vor ihr war. Sie konnten jeden Moment aufeinandertreffen.
Eine Bodendiele knarrte unter ihren Füßen. Sofort hielt sie inne, hörte auf zu atmen. Mit jeder Bewegung konnte sie ihren Standort verraten. Sie musste vorsichtiger sein.
Sie schlüpfte um die nächste Ecke, wäre beinahe über einen Haufen Seile gestolpert, die zusammengerollt auf dem Boden lagen. Im letzten Moment gelang es ihr, einen großen Schritt darüber hinweg zu machen.
Die Segel um sie herum bewegten sich. Jemand kam unmittelbar hinter ihr her.
Und dann, im nächsten Augenblick, geschah alles gleichzeitig.
Ohne noch darauf zu achten, möglichst kein Geräusch zu verursachen, lief Rosanna um die nächste Ecke. Jemand rief: »Rosanna!«
Sie blieb stehen und schrie, schrie voll Entsetzen, Fassungslosigkeit und Angst vor dem, was sie da sah, und dann waren da plötzlich Arme, die sie von hinten umfingen, starke, warme, tröstliche Arme, ein Gesicht presste sich gegen ihres, und sie hörte Robs heisere Stimme: »Schau nicht hin, Rosanna, schau bloß nicht hin!«
Sie aber konnte den Blick nicht abwenden. Von dem Körper, der vor ihr kaum merklich, ganz sacht hin und her schwang. Von den im Todeskampf verzerrten Gesichtszügen Marc Reeves.
»Rosanna, ich halte dich!«
Sie konnte nicht aufhören, zu schreien.
Samstag, 1. März
»Du solltest nach ihr sehen«, drängte Pam, »sie ist jetzt seit fast einer Stunde da oben. Vielleicht braucht sie dich.«
»Aber sie wollte unbedingt allein sein«, meinte Cedric unbehaglich. Er fürchtete einen Zusammenbruch seiner Schwester und wollte nicht derjenige sein, der ihn auffangen musste. »Möchtest du nicht lieber …?«
»Du bist ihr Bruder. Zu mir hat sie doch überhaupt keine Beziehung.«
Schließlich stieg Cedric widerwillig aus dem Auto. Sie parkten vor dem Haus, in dem Marc Reeve gewohnt hatte. Jacqueline Reeve hatte Rosanna den Schlüssel überlassen und ihr gesagt, sie dürfe sich eine Erinnerung aus der Wohnung holen, was immer sie wolle. Es ging Rosanna nicht gut, deshalb hatten Cedric und Pam sie begleitet, aber sie hatte dann doch darum gebeten, allein nach oben gehen zu dürfen.
»Ich brauche einen Moment für mich«, hatte sie gesagt. Pam hatte recht: Der Moment währte nun bereits eine Stunde.
Cedric überquerte die Straße. Seine gebrochenen Rippen schmerzten noch immer, aber die Situation war nicht mehr mit der am Anfang vergleichbar. Er konnte sich viel besser bewegen und hatte sogar die Reise von Taunton nach London gut überstanden. Bald würde er wieder ganz der Alte sein.
Die Tür zum Haus war nur angelehnt. Er stieg die Treppen hinauf und betrat die Wohnung. Seine Schwester stand mitten in Marcs Wohnzimmer, und fast hatte es den Anschein, als habe sie sich seit ihrer Ankunft nicht von der Stelle gerührt.
»Pam meinte, ich soll mal nach dir sehen«, sagte er, »du bist schon so lange hier oben.«
Sie wandte sich langsam zu ihm um. »Schon lange?«, fragte sie.
»Seit einer Stunde.«
Sie wirkte überrascht. »Das habe ich gar nicht bemerkt. «
Er ließ seinen Blick durch das Zimmer schweifen.
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