Die Letzte Spur
Die kleine, weiß geflieste Küchenzeile. Die preiswerten Möbel, die weder hässlich noch schön, sondern einfach nur neutral waren. Der schlichte Teppichboden. Er merkte, dass er fröstelte.
Wie kann man so leben, fragte er sich, wie kann man es in einer solch grauen Kühle aushalten?
Der einzige persönliche Gegenstand war ein Aquarell an der Wand. Ein Schiff vor einer Hafenmauer. Das Gemälde stellte zwar wenigstens eine Besonderheit inmitten der reinen Zweckmäßigkeit aller anderen Gegenstände dar, aber sein Motiv war so dunkel und melancholisch, dass es die allgemeine Tristesse nicht im Mindesten aufhellte.
Rosanna war seinen Blicken gefolgt.
»Wir leben alle so sehr in Klischees«, sagte sie, »selbst dann, wenn wir glauben, die Dinge in ihrer Wahrheit und Richtigkeit bis auf den Grund zu durchschauen. Marc war perfekt darin, sein eigenes Bild zu kreieren, und selbst ich habe nicht bemerkt, wie absolut unvollständig seine Selbstdarstellung war. Erfolgreicher Anwalt. Ehrgeizig. Attraktiv. Intelligent. Ja, das war er alles. Aber vor allem war er ein zutiefst depressiver Mensch. Er hat ungeheuer viel Kraft darauf verwandt, dies niemanden merken zu lassen.«
»Die Wohnung lässt diesen Schluss zu, ja«, sagte Cedric. »Ich habe noch nie einen Raum gesehen, der so …« Er suchte nach dem richtigen Wort.
»Unpersönlich«, sagte Rosanna. »Kalt. Leblos. Wie sieht es in einem Mann aus, der sich eine solche Umgebung schafft?«
»Glaubst du, die Sache mit Elaine hat ihn in diese Verfassung getrieben? Oder die Geschichte mit seinem Sohn?«
»Ich glaube, dass er schon vorher depressiv war. Sein rücksichtsloses Vergraben in seiner Arbeit war schon Ausdruck davon. Aber ich weiß so wenig über ihn, Cedric. Praktisch gar nichts. Nichts über seine Kindheit und Jugend, seine Herkunft. In den zwei Wochen, die wir einander kannten, war er ja nur damit beschäftigt, seine Version der Geschichte vom Januar 2003 aufrechtzuerhalten. Er muss sich gefühlt haben wie jemand, der mit dem Rücken zur Wand steht. Ständig musste er neu auf das reagieren, womit ich daherkam. Ich ließ nicht locker, ich ließ ihn nicht einmal Atem holen. Ich war verbissen in den Gedanken, seine Unschuld zu beweisen. Und am Ende … habe ich ihm keinen Ausweg mehr gelassen.«
Er konnte ihre Traurigkeit spüren, sie war fast greifbar, vermischt mit dem Schmerz, den Marc Reeve in diesem Raum zurückgelassen hatte. Er hätte sie gern in die Arme genommen, aber er hatte das Gefühl, dass sie das nicht gewollt hätte.
So sagte er nur: »Er hat sich seine Ausweglosigkeit selber gezimmert, Rosanna. Er hat in der Nacht damit begonnen, in der Elaine verunglückte. Wenn es wirklich ein Unfall war, dann hätte er ihn nie vertuschen dürfen. Das war der Anfang vom Ende.«
»Ja«, sie starrte wieder zum Fenster, hinter dem ein grauer Himmel den Tag auch nicht fröhlicher machte, »das war es. Aber das Ende hätte nicht so sein müssen, wie es dann tatsächlich war. Wenn ich zu ihm gestanden hätte … wenn er gewusst hätte, dass ich zu ihm stehe … dann hätte es doch Hoffnung für ihn gegeben.«
»Vielleicht auch nicht. Es ist müßig, zu spekulieren. Rosanna, ich kann mir denken, wie du dich fühlst, aber … es nützt nichts. Du machst dich kaputt damit. Auch damit, hier in dieser schrecklichen Wohnung herumzustehen. Nimm etwas, irgendeinen Erinnerungsgegenstand, und dann lass uns gehen.«
»Was soll ich denn nehmen? Wirklich, Cedric, ich weiß nicht, was von den Dingen hier eine Verbindung zwischen mir und ihm darstellen sollte.«
Sie sah so unglücklich aus. Er hätte sie gern an der Hand genommen und einfach aus diesem Haus gezogen.
»Wie geht es nun weiter?«, fragte er.
Sie zuckte die Schultern. Trotz des Kummers in ihren Augen hatte Cedric den Eindruck, dass es sie ein wenig erleichterte, für den Moment aus dem Grübeln um Marc Reeve gerissen zu werden.
»Ich weiß es noch nicht. Ich denke, dass ich mir einen Job in London suchen werde. Und eine Wohnung.«
»Du gehst definitiv nicht zu Dennis zurück?«
»Nein.«
»Und Rob?«
Etwas Warmes und Weiches in ihrem Ausdruck glättete für den Augenblick die Linien, die sich während der letzten acht Tage in ihren Zügen eingegraben hatten. »Er war wie ein Fels in der Brandung, Cedric. In diesem schrecklichen Moment, als ich … Marc fand … Mein Gott, Rob ist sechzehn Jahre alt. Aber er war so stark. So gefasst. Er hielt mich fest, und ich glaube, nur so konnte ich diesen Moment
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