Die letzte Sünde: Kommissar Rosenthal ermittelt in Tel Aviv (German Edition)
Beifahrersitz schob sich das letzte Stück Pita in den Mund, während er bereits überlegte, was er wohl zum Mittag essen könnte. Immer dieser Hunger. Schon als Kind hatte er es nie länger als zwei Stunden, ohne etwas zu essen, ausgehalten. Bei Yossi im Auto lief Musik von Chaim Moshe. Ein mittlerweile uralter jemenitisch-israelischer Sänger, der in seinen kitschigen Liedern über all die verlorene Liebe und das schwere Leben im Allgemeinen klagte. Assaf mochte diese orientalische Musikund das alte Hochhebräisch, in dem die Lieder gesungen wurden. Heute sprach ja niemand mehr so. Schon gar nicht in seinem Alter. Alle sprachen Straßenhebräisch. Slang. Mit seinen Freunden, besonders denen, die er schon seit Kindertagen kannte und die überwiegend immer noch im Heimatort lebten, sprach Assaf nur in verschlungenen Codewörtern. Sie hatten Begriffe entwickelt wie Schartukot oder Schvekot. Bezeichnungen für Frauen. Schartukot waren diejenigen, die leicht zu haben waren. Schvekot waren die Gutaussehenden. Der Rest des Landes nannte sie Kusit. Dieses umgangssprachliche Wort für attraktive Frauen wurde jetzt sogar in die Wörterbücher aufgenommen. Assaf dachte an seine Kollegin Anat Cohen. Sie war auf jeden Fall eine Kusit. Anat hatte mittellange braune Haare, die sie nie offen trug. Sie war relativ groß für eine israelische Frau, mindestens ein Meter fünfundsiebzig, schlank, und ihr Gesicht war schön und ebenmäßig. Seitdem Assaf sie das erste Mal im Präsidium getroffen hatte, wollte er mit ihr ausgehen. Sie war bisher allerdings resistent gegen seinen Charme gewesen, der Ehrgeiz zerfraß sie und war das Einzige, was sie hässlich machte. Sie war so alt wie er, musste aber langsamer Karriere gemacht haben, denn immerhin hatte er ein Jahr länger Wehrpflicht abgeleistet und trug jetzt den gleichen Titel wie sie. Sie wollte schnellstmöglich zur Oberkommissarin befördert werden. Den Titel bekam jedoch in der Regel nur einer aus der Abteilung pro Jahr. Das wusste Assaf von Zipi. Wieler hatte ihm gesagt, dass er sich nicht allzu dumm anstellen solle, dann wäre er bald Oberkommissar. Oberkommissar – verdient hatte er diesen Titel. Immerhin hat er in den letzten Jahren an der Grenze und in Gaza sein Leben riskiert. Dort in der scheißstaubigenWüste. Er war auch dabei gewesen, als 2005 die Siedler aus Gaza evakuiert wurden. Damals hatte die ganze Welt, inklusive der ihm verhassten UN , Israel für diese Entscheidung gelobt. Assaf und seine Kollegen hatten den anderen Soldaten bei der Räumung von Tausenden Siedlerwohnungen den Rücken freihalten müssen. Nicht wenige hatten Steine nach ihnen geworfen. Manche hatte man, Steine werfend, mit Kafiya im Gesicht, kaum von den Palästinensern unterscheiden können. Man hatte sie als Verräter beschimpft. Kämpfer im Bruderkrieg. Juden gegen Juden. Israelis gegen Israelis. Aber noch viel gefährlicher waren die Terroristen gewesen, die versucht hatten, sich an den Grenzen in die Luft zu jagen, oder von irgendwelchen Dächern wahllos auf die Grenze geschossen hatten. Manchmal waren sie auch mit Panzerfäusten auf Eselskarren angaloppiert. Oder sie hatten diese armen Viecher, beladen mit Bombengürteln, losgeschickt, damit sie dann den Soldaten um die Ohren flogen. Und dann waren da ja noch all die Einsätze, die sie gemeinsam mit der Spezialeinheit JAMAM durchgeführt hatten. Dabei hatten Assaf und seine Leute regelmäßig in der Höhle des Löwen ihr Leben riskiert. Dagegen ging es bei der Mordkommission geradezu entspannt zu.
Yossi bog in die Herzl-Straße ein. In Tel Aviv wussten die meisten Leute nicht, was im Süden des Landes, nur eine halbe Stunde Autofahrt entfernt, so vor sich ging. Assaf glaubte, dass die meisten es auch gar nicht wissen wollten. Sie waren glücklich in ihrer Blase. Selbst wenn Raketen auf Kindergärten nur zwanzig Kilometer vor der Stadt abgeschossen wurden, pflegten die Hedonisten ihre aus Europaabgekupferte Café-Kultur, hockte die Bohème auf Designerstühlen und aß ihr obligatorisches Schabbat-Frühstück. Assaf bezeichnete sie schon mal abfällig als Drückeberger und Linke. Andererseits fand auch er, dass man in Tel Aviv am besten leben konnte. Und die schönsten Frauen gab es hier, das konnte man nicht leugnen.
Yossi riss ihn aus seinen Gedanken, als er den Polizei-Skoda auf dem Bürgersteig vor einem verfallenen Gebäude parkte.
»Hier ist der Ulpan?«, fragte Assaf und blickte verdutzt auf die Ruine vor ihnen.
»Ja. Also
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