Die letzte Sünde: Kommissar Rosenthal ermittelt in Tel Aviv (German Edition)
Morgen«, grüßte der Kommissar und beugte sich ebenfalls unter den mit Akten bepackten Holztisch.
»Boker tov, Rosenthal«, schnaufte Wieler zurück.
Assaf war erstaunt, dass der beleibte Mann überhaupt unter den Schreibtisch kriechen konnte. Mit seinem dicken Bauch und der Glatze wirkte Wieler auf ihn wie das Fleisch gewordene Michelin-Männchen. Kaum vorstellbar, dass derselbe Mann einst die körperlich ausgesprochen harte Grundwehrausbildung absolviert hatte. Assaf wusste, dass Wielers behäbiges Aussehen täuschte. Wenn er den Mund aufmachte, wurde er zum Pitbull: schnell, brutal, sich festbeißend. Wieler war berühmt-berüchtigt; vor allem die jungen Soldaten hatten Angst vor seiner erbarmungslosen Art. Assaf schätzte ihn trotzdem, denn so hart wie Wieler auch mit ihnen ins Gericht ging, so fair war er dabei.
»Was machst du denn da unter dem Tisch?«, fragte Assaf seinen im Gesicht rot angelaufenen Chef.
»Ach, diese technische Ausrüstung hier ist chara – Scheiße. Der blöde PC stürzt mir ständig ab. Jetzt habe ich gerade ... Ach, auch egal. Sollen sich die aus der IT drum kümmern. Die Deppen sitzen eh nur blöd rum, während wir hier Mord und Totschlag an den Hacken haben. Setz dich, Rosenthal.« Mit einer unglaublichen Behäbigkeit richtete sich Wieler auf. Fast genauso lang schien er danach zu brauchen, um die richtige Position in dem unter ihm verschwindenden Bürostuhl zu finden. »Hör zu, Rosenthal. In Neve Zedek wurde eine Leiche gefunden. Weiblich. Du wirst den Fall übernehmen.«
Assaf schaute Wieler gleichermaßen überrascht wie erfreut an. Endlich Schluss mit dem Aktenwälzen, endlich Schluss mit dem Herumsitzen.
Als könnte Wieler seine Gedanken lesen, fügte er hinzu:»Ich weiß. Ich habe dir gesagt, du sollst dich noch besser ein-ar-bei-ten, bevor ich dich an deinen ersten Fall lasse. Aber scheiß der Hund drauf. Entweder du kannst es oder nicht. Wir zeigen den Nörgelfritzen auf dem Revier, wo es langgeht. Du zeigst, was du drauf hast. Und dass du nicht nur so ein Soldatenkommissar bist, für den dich hier alle halten. Und wenn du es verkackst, dann wissen wir wenigstens, dass du es nicht kannst. Dann schicke ich dich zurück nach Gaza zu den Arabern.« Wieler lachte brüllend.
Assaf schwieg zur letzten Bemerkung. Wieler brauchte das Gefühl, klüger, besser und stärker zu sein. »Worum geht es überhaupt?«, fragte er stattdessen.
»Rosenthal, auf den Punkt wie immer. Heute Morgen hat die Sekretärin der Sprachschule Ulpan in Neve Zedek eine Frauenleiche gefunden.«
»Heute Morgen? Wann genau?«
»Ich weiß es nicht. Aber die Kollegin Cohen ist schon vor Ort. Lass dich von ihr auf den aktuellen Stand bringen. Und dann kannst du ihr auch gleich verklickern, dass sie vom Fall abgezogen ist. Ich konnte sie telefonisch nicht erreichen, um ihr das selbst mitzuteilen.«
»Na joffi. Das ist ja ’ne Spitzenidee. Die wird sich freuen. Und ich bin der Arsch. Warum hast du mir nicht gleich Bescheid gesagt? Ich nehme doch der Kollegin nicht den Fall weg.«
»Rosenthal, jetzt sei kein Weichei. Die Gute wird es überleben, die hat genug andere Sachen zu tun. Ich werde sie schon beschäftigen. Du musst mehr Biss haben, Rosenthal. Keine Rücksicht. Nur den Fall im Blick.«
Assaf rollte mit den Augen. Wieler ignorierte es, oder hatte er es überhaupt gesehen?
»Weißt du, wo der Ulpan ist?«, fragte Wieler nach. »In der Lilienblum-Straße.«
Assaf nickte skeptisch. Das gefiel ihm gar nicht. Er hatte sowieso schon das Gefühl, dass Anat Cohen ihn als Rivalen Nummer Eins ansah. Und jetzt das. Die wird ausflippen. Doch Wieler hatte entschieden, und anstatt mit ihm eine fruchtlose Diskussion anzufangen, fragte er ihn nur, wen er von den Polizeihauptmeistern zur Verstärkung mitnehmen konnte.
»Nimm, wen du willst. Ich lass dir freie Hand. Aber halt mich auf dem Laufenden«, japste Wieler, während er sich wieder unter den Schreibtisch quälte. Ende der Durchsage.
Als Assaf die Tür zu Wielers Büro schließen wollte, brüllte ihm sein Chef noch hinterher: »Und Assaf – ich verlass mich auf dich!«
Assaf lief die Treppe zu seinem Büro hinunter, und neben der Skepsis kam jetzt doch auch ein Gefühl der Spannung und Freude auf. Er hatte endlich seinen ersten eigenen Fall bekommen. Assaf entschied, Yossi Hag mitzunehmen. Er brauchte jemanden an seiner Seite, dem er vertrauen konnte.
Wenige Minuten später saßen die beiden Männer im Polizeiwagen. Der Kommissar auf dem
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