Die letzte Wahrheit: Roman (German Edition)
erlebt hatte, schöne und schlimme, lustige und peinliche, und dass ich das alles überlebt hatte.
Wir standen gerade im Korridor, als es klingelte. Wir versteckten uns in der Putzkammer, drückten uns zwischen Eimer und Schrubber und warteten, bis alle wieder in den Klassenzimmern waren. Der Gestank nach Putzmitteln war unerträglich.
» Danke « , sagte ich zu Sylvia, als es auf dem Korridor wieder still war. » Das hab ich gebraucht. «
» Wir sind noch nicht fertig « , sagte sie. » Jetzt bin ich dran. «
Mist. Ich hätte mir inzwischen überlegen sollen, an welche Stellen ich Sylvia führen konnte. Denn spontan fiel mir überhaupt nichts ein. Wo hatte sie ihre entscheidenden Momente erlebt?
» Keine Sorge « , sagte Sylvia, als hätte sie meine Gedanken gelesen. » Du brauchst dir nicht den Kopf zu zerbrechen. Ich hab schon alles geplant. «
Als Erstes schlichen wir uns zu einem leeren Klassenzimmer im Nordflügel, dann in die Bibliothek und dann auf den Schulhof, wo Sylvia ihre wichtigsten Momente gehabt hatte– von denen die meisten (nein, alle) mit Jungs zu tun hatten–, und wir kicherten, wenn wir es mal wieder geschafft hatten, nicht erwischt zu werden. Es war fast, als wären wir wieder kleine Mädchen, voll eingetaucht in unsere Fantasiewelt.
Aber als wir an der vierten Stelle ankamen, schlug die Stimmung um. Denn es waren alles Stellen, wo die Jungs mit Sylvia Schluss gemacht hatten. Anfangs schien ihr das nichts auszumachen, doch ganz plötzlich wirkte sie durcheinander und traurig.
» Keiner von den Typen hatte dich verdient « , sagte ich, als wir zum Notausgang gingen. » Sei froh, dass du sie los bist. «
» Ich weiß « , sagte sie. » Deswegen rufe ich mir das ja alles ins Gedächtnis. «
Aber ich glaubte ihr kein Wort. Es war, als wäre ihr inneres Licht erloschen.
» Und wohin gehen wir jetzt? « , fragte ich im Treppenhaus in der Hoffnung, dass sie genug hatte von ihrer Selbstkasteiungstour.
» Aufs Dach « , sagte sie mit einem traurigen Lächeln und stieg weiter die Treppe hoch. » Und mach nicht so ein belämmertes Gesicht. Es ist die letzte Station auf Sylvia Goldes Pfad der Tränen. «
Ich blieb stehen. Genau das hatte ich befürchtet. Sie war total fertig, egal wie sehr sie versuchte, so zu tun, als wäre das Gegenteil der Fall.
» Mensch, Sylvia « , sagte ich. » Was wissen diese blöden Jungs denn schon? « Ich überlegte krampfhaft, wohin ich mit ihr gehen konnte. An einen Ort, wo sie etwas Bemerkenswertes getan hatte. Aber mir fiel einfach nichts ein, auch wenn es irgendetwas Tolles geben musste, das Sylvia getan hatte. Wo sie genauso entscheidende Momente erlebt hatte wie ich. Trotzdem wollte mir einfach nichts einfallen. » Du bist total kreativ und wahnsinnig talentiert « , sagte ich. » Du bist die Mode-Ikone der Schule. Du wirst mal eine berühmte Modedesignerin werden, das weiß ich einfach. Du wirst eines Tages zusammen mit Steve McQueen bei der New York Fashion Week auftreten. «
» Er heißt Alexander McQueen. « Sylvia verdrehte die Augen. » Außerdem ist er längst tot. Und Steve ebenfalls. «
» Okay, dann eben Donna Karan. «
» Donna Karan? Soll das ein Witz sein? Die ist auch schon scheintot. «
» Mann, Sylvia. «
» Ja, ich weiß, du versuchst, mich aufzumuntern. Aber soll ich dir mal was sagen– es klingt ziemlich verzweifelt « , sagte Sylvia, ohne sich umzudrehen. Sie zuckte die Achseln. » Ist schon in Ordnung. Ich weiß, wer ich bin. Das akzeptiere ich. Du brauchst mir nichts anderes einzureden. Jetzt komm schon. «
Als wir oben ankamen, drückte Sylvia die Tür auf, und wir traten aufs Dach des Südflügels.
» Sind hier nicht mal ein paar Schüler beim Rauchen erwischt worden? « Ich betrachtete die Baumkronen rings um das Gebäude. Der Himmel war blau und wolkenlos, und es war ein bisschen frisch, aber trotzdem angenehm in der Nachmittagssonne. In der Ferne konnte man die Spitze des Empire State Building zwischen den anderen Wolkenkratzern erkennen. » Ich dachte, seitdem wäre die Tür immer abgeschlossen. «
» Anfangs ja, aber die Bauarbeiter, die das Dach auf dem Anbau ausgebessert haben, haben sie wieder aufgeschlossen, um hier oben Mittagspause zu machen. « Sie sah sich um. Dann lächelte sie irgendwie bittersüß. » Hier oben haben Ian und ich mal Sex miteinander gehabt. «
» Im Ernst? « Die verrückten Sachen, die Sylvia machte, brachten mich immer wieder zum Staunen.
Sie nickte, dann senkte sie den Blick und biss
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