Die letzte Wahrheit: Roman (German Edition)
Kleidung zu tragen, um ihre Magerkeit zu verbergen.
» Wie schaffen Sie es bloß, so schlank zu bleiben? « , hatte eine freundliche alte Dame sie vor ein paar Tagen in der Apotheke gefragt.
Ganz einfach, hätte Kate am liebsten geantwortet. Ich bin schon tot. Sehen Sie das nicht?
Stattdessen hatte sie die Lippen so fest zusammengepresst, dass ihr die Tränen in die Augen traten, als sie ihre Medikamente bezahlte. Die Medikamente, die ihre Therapeutin ihr gegen die Übelkeit und die Schlaflosigkeit verschrieben hatte. Aber sie halfen nicht, sondern führten nur dazu, dass sie sich fühlte wie unter Wasser. Sie nahm sie weiterhin ein in der Hoffnung, irgendwann zu ertrinken.
Wieder zu arbeiten war eine schlechte Idee gewesen. Kate musste unbedingt aus dem Empfangsbereich raus und in ihr Büro. Aber sie konnte den Blick nicht von diesen Blumen losreißen. Sie stand wie angewurzelt vor den Aufzügen und war froh, dass sie so früh hergekommen war. Falls sie sich hier und jetzt übergab, blieb ihr wenigstens noch Zeit, die Sauerei aufzuwischen. Und vielleicht würde sie nicht einmal jemandem begegnen müssen. Sie hatte sich vorgenommen, den ganzen Tag in ihrem Zimmer zu bleiben und sich von dem Wissen trösten zu lassen, dass draußen vor ihrer verschlossenen Tür Leute waren– atmende, lebende Wesen.
Auf keinen Fall würde sie in der Lage sein, mit irgendjemandem Smalltalk zu machen. Was sollten die anderen auch zu ihr sagen? Es tut mir leid? Es tut mir leid, dass Ihre Tochter tot ist? Tut mir leid, dass Ihre Tochter vom Dach ihrer Schule gesprungen ist, als Sie auf dem Weg dorthin waren, um sie abzuholen. Tut mir leid, dass Sie zu spät gekommen sind. Tut mir leid, dass Sie Ihr Versagen bis ans Ende Ihres erbärmlichen Lebens nie vergessen werden.
Und ebenso wenig wie Kate der Sinn nach Smalltalk stand, würden ihre Kollegen erpicht darauf sein, ihr zu begegnen. Niemand wollte mit einer Mutter reden, deren einziges Kind sich gerade umgebracht hatte. Kate hätte sich und allen anderen die peinliche Situation ersparen können, indem sie einfach noch länger zu Hause geblieben wäre.
» Nimm dir mindestens drei Monate Auszeit und arbeite dann erst einmal eine Zeitlang von zu Hause aus « , hatte Jeremy ihr bei der Beerdigung geraten. Seine Augen waren feucht und gerötet gewesen, und zum ersten Mal hatte Kate geglaubt, dass die Fürsorglichkeit, die er ihr über die Jahre entgegengebracht hatte, nicht gespielt gewesen war. Niemand war ein so guter Schauspieler. Neben ihm hatten seine schöne, in Tränen aufgelöste Frau und seine hochgewachsenen Söhne gestanden, die verlegen auf ihre Füße geschaut hatten. Der Anblick dieser Familie– gutaussehend, zusammenpassend, vollständig– hätte Kate fast in die Knie gehen lassen. » Du weißt, wie sehr wir dich alle schätzen, Kate. Aber wir können die Festung auch ohne dich halten. So lange du willst. «
Als Vera sie umarmt hatte, hatte Kate sich an sie geklammert und das Gesicht in ihrem langen, duftenden Haar vergraben. Es war zu viel gewesen, völlig unangemessen in Anbetracht dessen, dass sie und Vera sich kaum kannten, aber Vera war einfach so voller Leben, und Kate hatte sich vor dem gefürchtet, was passieren würde, sobald sie sich aus der Umarmung löste.
Es hatte sich jedoch herausgestellt, dass zu Hause zu bleiben leichter gesagt war als getan. Die ersten Tage nach Amelias Tod hatte Kate in Gesellschaft ihrer drei besten Freundinnen verbracht. Sie waren an ihre Seite geeilt und hatten sie aufgerichtet, hatten dafür gesorgt, dass sie aß, duschte und atmete. Aber sie hatten alle selbst Familie und nicht länger als ein paar Tage bleiben können. Selbst Seth– Kates große Liebe aus Collegezeiten und inzwischen ihr bester Freund–, der sich rührend um sie gekümmert hatte, war irgendwann immer seltener vorbeigekommen. Kate hatte darauf bestanden. Seth hatte inzwischen einen Lebensgefährten, Thomas, und eine Tochter, die ihn brauchte.
Kates Eltern waren auch da gewesen. Strategisch geschickt waren sie etwas später gekommen, erst am Abend vor der Beerdigung. Als die schlimmsten Auswirkungen von Kates Trauer ausgestanden waren. Für extreme Gefühlsausbrüche jeglicher Art– Wut, Verzweiflung, Freude, Liebe– hatten ihre Eltern schon immer nur Verachtung übriggehabt, egal, von wem sie kamen. Ganz besonders, wenn sie von ihrem einzigen Kind kamen. Kate hatte früh gelernt, dass es ratsam war, seine Gefühle hinunterzuschlucken. Aber wahrscheinlich
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