Die letzte Wahrheit: Roman (German Edition)
Sylvie würde immer meine beste Freundin bleiben–, aber manchmal war es viel einfacher, mit ihm befreundet zu sein.
» Wegen dem leistest du es dir, zu spät zu kommen, was? Und mir wirfst du immer vor, mir wären Jungs wichtiger als du. « Sylvia schüttelte den Kopf und ging weiter. » Bis später dann. Vielleicht hast du ja dann mehr Zeit für mich und mein langweiliges Ian-Drama. Und übrigens, dieser Ben ist nie im Leben schwul, das kauf ich ihm nicht ab, selbst wenn er dir ein Foto von sich schickt, auf dem er’s mit ’nem Typen treibt. «
Sylvia schlüpfte im allerletzten Moment durch die Tür, bevor Will dichtmachte. Ich sah, wie die Tür ins Schloss fiel. Jetzt hatte ich keinen Grund mehr zur Eile. Offiziell galt ich bereits als verspätet, was auf seltsame Weise befreiend war.
Thx, schrieb ich. weiß nicht, was ich ohne dich tun würde.
Ich drückte auf Senden und wartete.
Als mein Handy wieder piepte, schaute ich nach, was Ben geschrieben hatte. Aber die SMS war nicht von Ben. Sie kam von einer unterdrückten Nummer.
Treffpunkt: Prospect Park Long Meadow, 15h. Birds of a feather flock together… komm allein.
Kate
5. SEPTEMBER 1997
Insgesamt habe ich acht Tests gemacht.
Aber das kleine Pluszeichen in dem Fensterchen war immer gleich. Es spielte keine Rolle, ob ich den Test am späten Abend, am frühen Morgen oder nach drei Glas Wein durchführte. Das Ergebnis war immer positiv.
Heute hat der Campusarzt das Ergebnis mit einem Urintest bestätigt. Ein Teil von mir – der bescheuerte Teil, auf dessen Konto all die falschen Entscheidungen gehen, die mich in diese Situation gebracht haben – hatte gehofft, dass Test Nr. 9 negativ sein würde. War er nicht. Man überwies mich zu einer Gynäkologin.
Dort wurde eine Ultraschalluntersuchung durchgeführt, die die » Schwangerschaft « bestätigte. Die nehmen das Wort » Kind « so lange nicht in den Mund, wie sie nicht wissen, ob man es überhaupt bekommen will. Oder sich dagegen entscheidet.
Ich bin jetzt in der neunten Woche. Ungefähr. Ganz genau können sie das natürlich nicht sagen. Und ich auch nicht.
Denn es war nicht nur ein einziger, bei einer einzigen Gelegenheit begangener Fehler. Es war ein ganzer Sommer der Fehlentscheidungen, das Ergebnis eines von zu vielen richtigen Entscheidungen bestimmten Lebens. Offenbar kann ich nur auf eine Weise Mist bauen: wenn schon, denn schon.
Als kleines Mädchen habe ich Klavier geübt, ohne dass man mich dazu ermahnen musste, und ich habe immer an AG s teilgenommen. Ich war Klassenbeste auf meiner vornehmen Privatschule in Chicago. Ich habe an der Duke University studiert und dort mit summa cum laude abgeschlossen und mich anschließend an der Columbia University für Jura eingeschrieben. Herrgott noch mal, ich bin stellvertretende Chefredakteurin der Columbia Law Review .
Das ist natürlich ein Lebenslauf, kein Mensch. Ein Mensch ist das, was gerade in mir wächst. Und diesem winzigen Geschöpf ist das alles schnurzegal. Es will nur von mir geliebt werden.
Und wie soll ich es auch nicht lieben, wo es doch das Einzige ist, wonach ich mich jemals gesehnt habe? Jetzt bin ich vierundzwanzig, und ich habe es noch nie auch nur annähernd geschafft, das mit der Liebe hinzukriegen.
Vielleicht kann ich also nicht versprechen, dieses Kind richtig zu lieben. Aber ich will es zumindest versuchen.
Kate
26. NOVEMBER
Es war erst halb neun, als Kate aus dem Aufzug stieg. In den meisten Räumen der Kanzlei brannte noch kein Licht, alles war vollkommen still. Eine einzelne Deckenleuchte über dem Empfangstresen tauchte die Lilien in der riesigen Vase in ein unwirkliches Licht. Es war ein schlechter Scherz, dass diese Blumen das Erste waren, was Kate an ihrem ersten Arbeitstag sah. Ihre Mutter Gretchen hatte– als einzige und eher symbolische Geste der Anteilnahme– Lilien für Amelias Beerdigung ausgesucht. Sie waren schön und geschmackvoll. Und schrecklich.
Beim Anblick der Blumen spürte Kate das vertraute Brennen im Hals, das sie in letzter Zeit jedes Mal dazu brachte, ins Bad zu rennen, wo sie dann die nächsten zehn Minuten würgend über der Toilette hing. Um den Brechreiz auszulösen, reichten Kleinigkeiten– der Anblick von Amelias Lieblingsmüsli im Supermarkt, ein Katalog für Feldhockeyausrüstung in der Post, die Stiefel eines jungen Mädchens. Nichts mehr zu essen war das Einzige, was half. In dem Monat seit Amelias Tod hatte Kate fünf Kilo abgenommen. Sie hatte sich angewöhnt, weite
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