Die letzte Wahrheit: Roman (German Edition)
Robert Baron inzwischen Professoren an der Uni von Chicago, Gretchen an der medizinischen, Robert an der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät. Aber ihr Vater– der Zurückhaltendere und vergleichsweise Warmherzigere der beiden– rief Kate eigentlich nie an. Hin und wieder schrieb er eine E-Mail, und sie führten angenehme Gespräche, wenn sie sich einmal im Jahr zu Weihnachten sahen, doch das Telefon war für Robert viel zu intim und viel zu direkt.
Kate betrachtete ihr Telefon und überlegte, ob sie den Anrufbeantworter anspringen lassen sollte. Aber Gretchen war gnadenlos. Wenn sie Kate etwas zu sagen hatte, würde sie nicht lockerlassen, bis sie Gelegenheit bekam, ihr alles bis auf Punkt und Komma zu unterbreiten. Schließlich holte Kate tief Luft und nahm ab.
» Kate Baron « , sagte sie ruhig und tat so, als wüsste sie nicht, wer der Anrufer war, so als könnte das auf wundersame Weise dazu führen, dass sich jemand anders am anderen Ende der Leitung meldete.
» Du bist ja tatsächlich in der Kanzlei! « , rief ihre Mutter gutgelaunt. » Ich bin froh, dass du wieder in der Arbeit bist! «
Gretchen hatte sich von Anfang an vehement dafür ausgesprochen, dass Kate so bald wie möglich wieder ins Büro gehen sollte. Am besten sofort. Sie war der Meinung, es sei das Beste für Kate, wenn sie aus dem Haus kam und abgelenkt würde. Aber Kate kannte ihre Mutter. Wahrscheinlich fürchtete Gretchen in Wirklichkeit nur, es könnte Kates Karriere schaden, wenn sie zu lange von der Kanzlei wegblieb.
» Ja, ich bin hier. « Kate atmete aus. » In der Arbeit. «
» Ich glaube wirklich, dass es das Beste für dich ist, Katherine « , sagte Gretchen in ihrem üblichen Maschinengewehrstakkato. » Die Kollegen haben dich bestimmt schon vermisst. Vor allem Jeremy. Dem bist du eine größere Stütze, als du denkst. «
» Er arbeitet mit zwei Dutzend Juniorpartnern zusammen. Wir sind ihm alle eine Stütze « , erwiderte Kate trocken. Es ärgerte sie, dass ihre Mutter sie deswegen anrief. Und sie ärgerte sich noch mehr über sich selbst, weil sie sich ärgern ließ. Inzwischen sollte sie eigentlich begriffen haben, dass ihre Mutter nichts anderes als die Karriere ihrer Tochter im Sinn hatte. Seit Amelias Tod hatte Gretchen alle paar Tage angerufen, und bei jedem Gespräch hatte sie sich mehr Sorgen um Kates Job gemacht als um ihre Trauer. » Er ist auch ohne mich ganz gut zurechtgekommen. «
» Da wäre ich mir nicht so sicher « , sagte Gretchen in einem Ich-hab’s-dir-ja-schon-immer-gesagt-Singsang. » Jedenfalls ist das meiner Meinung nach die richtige Entscheidung. Ein Schritt nach vorne. Ein Blick auf das Positive. «
Kates Magen zog sich zusammen. » Das Positive? «
» Ja, Katherine, das Positive an diesem schrecklichen Schlamassel. «
» Schlamassel? « Als wäre Amelias Tod nichts weiter als ein lästiger Schlamassel, der sich problemlos aus der Welt schaffen ließ.
» Ich weiß, dass dich das wütend macht, aber irgendeiner muss es dir schließlich mal sagen. «
Gretchen schaffte es immer wieder, sich gleichzeitig zur Heldin und zur Märtyrerin zu stilisieren, selbst in Situationen, die überhaupt nichts mit ihr zu tun hatten.
» Was muss mir mal einer sagen? «
» Amelia ist nicht mehr, Kate, und das ist eine schreckliche Tragödie « , sagte Gretchen forsch. » Aber es ist auch eine Tatsache. Und du hast immer noch dein ganzes Leben vor dir. Ich persönlich bin davon überzeugt, dass es dir leichter fallen würde, wieder auf die Füße zu kommen, wenn du deine neue Freiheit klug nutzen würdest. «
» Freiheit? « Allmählich kam sie sich vor wie ein Papagei.
» Also wirklich, stell dich doch nicht so dumm « , sagte Gretchen. » Ich war schließlich auch mal eine berufstätige Mutter, hast du das schon vergessen? Ich weiß, wie das ist, wenn man sich ständig vierteilen muss, um sowohl dem Beruf als auch der Familie gerecht zu werden. Freiheit von diesem Stress, das meine ich. Wer weiß, vielleicht findest du ja jetzt sogar Zeit, einen Mann kennenzulernen. Es sind schon merkwürdigere Dinge vorgekommen. Du könntest noch mal ganz von vorne anfangen. Und Amelia würde dir das auch wünschen. Sie würde dir wünschen, dass du glücklich bist. «
Kates Herz pochte so laut, dass es in ihren Ohren dröhnte. Sie hätte sich denken können, dass ihre Mutter in irgendeiner dunklen Ecke ihres Herzens Amelias Tod als Chance für Kate betrachtete, auf den Pfad der Tugend zurückzufinden. Aber es auch noch
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