Die letzte Wahrheit: Roman (German Edition)
widerstrebend. » Es ist ja eiskalt da draußen. «
» Ist das wirklich in Ordnung? Ich möchte mich nicht aufdrängen. Natürlich hätte ich vorher kurz anrufen sollen. Ich kann unangemeldeten Besuch selbst nicht ausstehen. «
Nein, es ist nicht in Ordnung, hätte Kate am liebsten gesagt. Sie fühlte sich in Gegenwart der meisten anderen Eltern unwohl, und nach allem, was sie vom Elternbeirat der Schule mitbekommen hatte, war die Vorsitzende dieses Vereins garantiert die letzte Person, die sie in ihrer Küche haben wollte. Diese Frauen waren nicht wie die Mütter aus Kates Kindheit, die ausgebeulte Jeans getragen, bergeweise Plätzchen gebacken und in ihrer Freizeit Halloweenkostüme genäht hatten. Die meisten dieser Frauen waren in kreativen Berufen tätig, Architektinnen, Designerinnen oder Schriftstellerinnen, alles Freiberuflerinnen mit selbstbestimmten Arbeitszeiten und äußerst lukrativen Jobs. Sie waren extrem modisch gekleidet und unnahbar. Erwachsene Cheerleader mit beeindruckender Karriere und dicken Bankkonten.
» Ja, ja, kein Problem « , sagte Kate wenig überzeugend. Als sie sich zum Küchentisch umdrehte, sah sie all die furchtbaren Zettel dort liegen. Hastig sammelte sie sie ein und stopfte sie in die nächstbeste Schublade. Es war unbeholfen und verdächtig, aber sie hatte keine andere Wahl. » Nehmen Sie doch Platz « , sagte sie, wobei sie es vermied, Blickkontakt aufzunehmen. » Ich war gerade dabei… Kann ich Ihnen etwas anbieten? «
» Nein, danke, ich belästige Sie auch so schon genug « , sagte Adele. Sie hatte ihren Mantel geöffnet, und zum Vorschein kamen ein hübsches smaragdgrünes Wickelkleid und dazu passende Schuhe mit sehr hohen Absätzen. Um den Hals trug sie mehrere schwere Ketten. Sie schaute sich mit unverhohlen prüfendem Blick in der Küche um, ließ sich jedoch nicht anmerken, zu welchem Urteil sie gelangte. » Ich möchte Ihre Zeit nicht über Gebühr in Anspruch nehmen. Wir wollten uns mit Ihnen über einige Veranstaltungen unterhalten, die der Elternbeirat Amelia zu Ehren organisieren möchte. Wir wollten nichts unternehmen, ohne vorher mit Ihnen gesprochen zu haben. «
» Veranstaltungen? « Das hörte sich gar nicht gut an.
Veranstaltungen bedeutete Partys. An denen sie vermutlich teilnehmen sollte. Kate stellte bescheidene Schecks an Grace Hall aus, wenn sie um Spenden gebeten wurde, doch von Veranstaltungen hatte sie sich immer so gut es ging ferngehalten. Da sie dem cliquenhaften Elternnetzwerk nicht angehörte, hätte sie sich nur wie eine Außenseiterin gefühlt. Ausgerechnet jetzt an derartigen Veranstaltungen teilzunehmen, wo sie nicht einmal mehr Mutter war, war undenkbar.
Adele winkte ab und schüttelte mit bestürzter Miene den Kopf.
» Veranstaltungen, tut mir leid, das klingt ja furchtbar « , sagte sie, wirkte jedoch keineswegs peinlich berührt. Aber es lag etwas in ihrer Stimme, etwas Vorsätzliches, das Kate irritierte. » Verzeihen Sie, ich habe einen anstrengenden Tag hinter mir. Ich hatte heute eine Besprechung nach der anderen, und mir schwirrt der Kopf. « Adele lächelte wieder. Diesmal war es ein kühleres Lächeln. » Wir würden Amelia gern auf der Schulauktion ehren, indem wir ihr eine Denkschrift widmen. «
» Oh « , sagte Kate, während sie eigentlich Nein sagen wollte. Am liebsten hätte sie gesagt: Bitte gehen Sie. » Ich fürchte, ich werde Ihnen keine große Hilfe sein können. Ich habe sehr lange Arbeitszeiten. Zu der Auktion habe ich es noch selten geschafft. «
Ein guter Vorwand. Vertraut, gesellschaftlich akzeptabel.
» Wir bräuchten eigentlich nur ein paar Kinderfotos und natürlich Ihr Einverständnis « , sagte Adele. Ihr Lächeln war jetzt entspannter, wärmer. Vielleicht war sie nervös gewesen, vielleicht hatte es sie in Verlegenheit gebracht, Kate auf das Thema ansprechen zu müssen. » Und glauben Sie mir, ich weiß genau, was Sie meinen. Sie sind Anwältin, nicht wahr? Partnerin in einer Kanzlei? «
» Ja « , sagte Kate und fragte sich gleichzeitig, ob dieses Detail von jetzt an zu der Legende gehören würde, die sich um Amelias Tod rankte: ihre Mutter, die Anwältin.
» Ich bin auch Anwältin. Zurzeit arbeite ich als Justitiarin bei Time Warner. Früher war ich bei der Kanzlei Dechter & Weiss angestellt und habe Firmen vertreten. « Adele schüttelte den Kopf, ihr Gesichtsausdruck war etwas gezwungen. » Das ist natürlich längst nicht so anspruchsvoll, wie als Partner in einer Kanzlei zu arbeiten, aber
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