Die letzte Wahrheit: Roman (German Edition)
der Hand.
» Ms Baron? « , fragte sie mit einem schüchternen Lächeln.
» Ja. « Kate sprang auf, als wäre sie beim Abschreiben erwischt worden.
» Ich bin Liv. « Die Frau reichte ihr die freie Hand. » Tut mir leid, dass Sie auf mich warten mussten. Wir müssen uns alle noch an diese verschlossenen Türen gewöhnen. «
» Schon in Ordnung. Das ist Lieutenant Lew Thompson « , sagte Kate. » Er hilft mir herauszufinden, was mit Amelia passiert ist. «
» Ach, ich wusste gar nicht, dass die Polizei die Ermittlungen wieder aufgenommen hat « , sagte Liv leicht verblüfft. » Davon hat Mrs Pearl gar nichts erwähnt. «
» Ist es in Ordnung, wenn Lew mitkommt? « , fragte Kate, ohne zu wissen, was sie eigentlich tun sollte, wenn Liv Nein sagte.
» Ja, ja, selbstverständlich « , antwortete Liv und schüttelte Lew ein bisschen verlegen die Hand. » Guten Tag, Lieutenant. Ich war nur überrascht, das ist alles. Kommen Sie mit. «
Livs Zimmer war ein kleines, schmales Kabuff, das gerade genug Platz bot für einen Schreibtisch, einen schmalen Besucherstuhl und vier Bücherstapel. An einer Wand lehnte ein noch nicht zusammengebautes Regal. Auf einem hinter dem Schreibtisch angebrachten Regalbrett standen ein paar gerahmte Fotos, hübsch asymmetrisch angeordnet. Auf den meisten Fotos war Liv zu sehen– beim Wandern, auf dem Fahrrad, auf Reisen– zusammen mit Freunden, womöglich Lebensgefährten, jungen Männern in Holzfällerhemden mit sorgfältig rasierten Koteletten.
» Ich weiß, die sind ein bisschen komisch « , sagte Liv mit einer Geste zu den Fotos. » Die Kids lachen mich immer aus. Sie sagen, ich versuche so zu tun, als wäre ich noch ein Teenager. « Sie zuckte die Achseln und betrachtete die Bilder. » Vielleicht bin ich das ja tatsächlich. Man ist, wer man ist, da kann man nichts machen. «
Es war nicht zu übersehen, warum Amelia Liv so sehr gemocht hatte.
» Nein « , sagte Kate. » Da kann man nichts machen. «
» Tut mir leid, dass es hier drin so eng ist « , entschuldigte Liv sich bei Lew, der sich in Ermangelung eines Stuhls an die Wand gelehnt hatte. » Die Büros werden nach der Anzahl der Dienstjahre zugeteilt. An diesem Zimmer, in dem ich jetzt seit vier Jahren hocke, lässt sich ablesen, dass es hier in Grace Hall kaum Fluktuation gibt. «
» Kein Problem « , sagte Kate. » Danke, dass Sie sich Zeit für uns nehmen. «
» Ich helfe Ihnen, so gut ich kann « , sagte Liv. » Amelia war eine meiner Lieblingsschülerinnen– kreativ, lustig und sehr klug. Manchmal konnte man kaum mit ihr mithalten. « Sie lachte unbefangen, dann zog sie die Brauen zusammen und schüttelte den Kopf, als wäre ihr gerade wieder eingefallen, dass Amelia tot war. Als sie Kate anschaute, hatte sie Tränen in den Augen. » Tut mir leid. « Sie rieb sich die Augen. » Sie sind bestimmt nicht hergekommen, um mich zum Weinen zu bringen. «
Ganz bestimmt nicht. Liv hatte kein Recht zu weinen. Sie war so jung und hübsch und würde eines Tages Kinder haben. Während das einzige Kind, das Kate wahrscheinlich je haben würde, tot war. Als Liv laut schniefte und sich die Augen mit einem Taschentuch wischte, starrte Kate sie nur an. Sie presste die Lippen zusammen, aus Angst, ihr könnte etwas Unangenehmes herausrutschen. Etwas wie: Wenn Sie meine Tochter nicht bezichtigt hätten, irgendwo abgeschrieben zu haben, wäre das alles nicht passiert. Eigentlich glaubte Kate das selbst nicht, jedenfalls nicht ganz. Es hätte trotzdem gutgetan, es auszusprechen.
» Vielleicht könnten wir bei dem Aufsatz anfangen, bei dem Amelia angeblich ganze Passagen abgeschrieben hat « , sagte Lew. Er öffnete seinen roten Ordner und nahm die beiden Aufsätze heraus, die Kate gefunden hatte. » Einer dieser Aufsätze, mit Ihren Korrekturen, wurde in Amelias Rucksack gefunden. Der andere war auf ihrem Computer gespeichert. «
Liv nahm die Aufsätze entgegen und legte sie nebeneinander auf ihren Schreibtisch. Mit zusammengezogenen Brauen blätterte sie sie durch, dann blickte sie mit großen Augen auf.
» Der Aufsatz mit meinen Kommentaren ist der, den Amelia mir gegeben hat, das ist der mit den abgeschriebenen Stellen « , sagte Liv. Sie klang gedrängt und ein bisschen verzweifelt. Als wäre sie sich ganz sicher gewesen, dass sie recht hatte, und als kämen ihr nun Zweifel. » Und ich möchte betonen, dass es nicht etwa um übermäßiges Paraphrasieren ging oder um einen einzelnen abgeschriebenen Satz. So etwas hätte ich niemals
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