Die letzten Dinge - Roman
Prachtbursche des Weges entlang. Was für ein Kerl. Er legte den Kopf schief und zwinkerte ihr zu. An wen erinnerte er sie bloß? Marlon Brando oder so. Das heiterte etwas auf.
Zimmer 311, murmelte Valerija. Stand eine Weile vor der Tür. Las: Schiwrin. Ihr Name. So hatte sie selbst geheißen, die längste Zeit ihres Lebens. Sie klopfte. Hörte nichts. Klopfte noch mal.
Moshno vojti? Vater? Ich bin es, Valerija! Kann ich reinkommen?
Aber sie hörte nichts. Von links näherte sich gewaltigen Schrittes eine gut genährte Schwester, Valerija zuckte zusammen, öffnete die Tür und ging schnell hinein. Nicht, dass sie der Schwester begegnete. Sie sah sich vorsichtig um. Ein kleiner Flur mit Spüle und Hängeschrank, eine Tür zum Bad, schwach beleuchtet, etwas brummte noch, ein Entlüfter über der Toilette war noch in Betrieb. Sie schaute vorsichtig und angstvoll um die Ecke. Da lag er. Sie sah ihn gleich. Er war noch kleiner geworden. Etwas in ihr krampfte sich zusammen und Widerstände und Schuld und Hass fielen in sich zusammen. Schiwrin lag mit dem Gesicht in der Ritze des Sofas vergraben, er trug einen schwarzen, leicht glänzenden Sportanzug, die Gardinen waren zugezogen und ließen noch Tageslicht hinein. Das Sofa war eigentlich ganz schön, der Tisch, der Schrank, Valerija staunte über die Möbel. Sie standen noch da vom Vorgänger. Schiwrin hatte nichts mitgebracht, gar nichts. Im Zimmer stand alles still. Kein Fernseher lief, kein Radio spielte, kein Papier raschelte, Schiwrin atmete schwach.
Valerija hustete.
Dobri djen.
Schiwrin murmelte etwas. Er wagte nicht, sich umzudrehen, weil immer noch die Möbel hin und her liefen. Das war nicht gut. Er war nicht Alice im Wunderland. Er war ein alter Mann, dem es nicht gut ging. Auch wenn er keine Schmerzen hatte und Nadjeschda ihm mit dem Morphium hinterherlief.
Oichee, sagte er. – Muss ich schon wieder trinken? Ich will nichts trinken.
Vater, sagte Valerija noch mal.
Schiwrin war es, als hätte er: »Vater« gehört. Aber das konnte nicht sein. Sie wollten alle nichts von ihm wissen und er hatte das immer verstanden. Schließlich, nach einer endlosen Weile, löste Valerija sich aus ihrem Stillstand und berührte unter äußerster Anstrengung mit der Kuppe ihres Mittelfingers seine Schulter.
Ich bin es. Valerija. Ich bin gekommen, dich zu besuchen.
Schiwrin wurde es siedend heiß. Das waren keine sprechenden Möbel. Das war kein Versehen. Das war seine schönste Tochter.
Was? Oichee, oichee, warte …
Schiwrin drehte sich vorsichtig um, er war schwach, aber sein Herz schlug jetzt wild. Valerija? Und aus der Lungengegend schien ihm etwas Flüssigkeit nach oben zu kommen, er musste sich räuspern, er geriet durcheinander, noch mehr durcheinander, aus den Tiefen kam etwas emporgegurgelt, etwas, das durch den vertrockneten Tränenkanal kriechen wollte, tatsächlich, er hatte es sich nicht eingebildet, da war sie, da stand sie, Valerija, die so schön war, dass er es nicht gewagt hatte, sie anzuschauen ab ihrem siebten Lebensjahr. Valerija, die so gestraft war mit diesem schrecklichen Vater. Schiwrin drehte sich und drehte sich und war immer noch nicht auf der linken Seite angelangt, er sollte sich setzen, er musste doch aufstehen, die verdammten Knochen, sein verdammtes, untaugliches und eingesunkenes Gestell, wie erbärmlich, wie erbärmlich er hier vor ihr kroch. Und dazu seine aufsteigenden Gefühlen, sie besuchte ihn, tatsächlich, da stand sie, die Möbel rührten sich nicht, alles stand still an seinem Platz.
Valerija schluckte auch. Ein stolzes Gefühl drückte ihr Kinn hoch. Weichheit duldete sie nicht. Sie war stolz, sie war Russin.
Was machst du, Väterchen?
Oichee, ich liege, wie du siehst. Es hat mich erwischt. Ich büße für all meine Sünden.
Valerija zog sich einen Stuhl herbei. Sah ihren Vater so dürftig, so voller Qualen, und doch konnte er immer noch listige, manchmal lustige Sätze bilden, das hatte sie vergessen. Selbstironie nannte man das. Sie versuchte, keine Miene zu verziehen. Die braunen Vorhänge, der kleine Mann, der abgestandene Geruch hinter ewig verschlossenen Fenstern.
Wie hast du mich gefunden?
Schwester Nadjeschda hat angerufen.
Oh, Nadjeschda … Schiwrin musste unwillkürlich in sich hineinkichern.
Valerija erinnerte sich an kein Gekicher ihres Vaters.
Bist du gut untergebracht? Wirst du gut versorgt?
Schiwrin nickte. Leidlich, leidlich. – Wie geht es der Mutter?
Sie wohnt jetzt in Bad Hersfeld. Sie hat
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