Die letzten Dinge - Roman
dort Bekannte.
Oh, … hat sie einen anderen Mann gefunden?
Nein, sie ist alleine, aber es sind russische Leute dort. Na ja. Sie lebt.
Aah.
Sie schwiegen. Reden war ihre Sache nicht. Nie gewesen. Valerija fühlte sich unbehaglich. Saß auf dem äußersten Rand des Stuhles. War wütend, in dieser Situation zu sein.
Ich habe dir was mitgebracht.
Sie stellte ihm eine Flasche Rotbäckchen hin. Wartete eine Weile. Und schließlich zog sie ein Foto heraus in einem Bilderrahmen zum Aufstellen.
Was ist das?
Das ist Noah Benjamin. Dein Enkelkind.
Schiwrin tastete nach der Brille auf dem Nachttisch, er räusperte sich, nahm den Rahmen und seine Hände zitterten, er starrte auf das Bild und schob die Brille höher. Seine Rippen, die alten Knochengriffel, sie verschoben sich, er bebte, seine Nase schien zu schwellen, das Wasser kämpfte sich in seine Augen, ein trockenes Schluchzen entrang sich seiner Kehle. Er hatte es nicht gewusst. Nicht gewusst.
Oichee, ein schönes Kind, ein schönes Kind. Mein Tochter hat ein Kind geboren, oichee, was für ein Freude.
Seine Worte kamen langsam, so langsam, aber deutlich und klar und dunkel, nur etwas schwankend im Ton. Eine heftige, schmerzliche Liebe zu diesem kleinen Kerl mit nacktem Kopf, den er vielleicht niemals sehen würde, erfasste und bestürzte ihn zutiefst.
Betreten saß Valerija da. Vielleicht waren sie zu hart gewesen mit ihm. Vielleicht hatten sie etwas nicht kapiert, damals.
Warum bist du einfach davongegangen?
Eine Weile verging und Schiwrin sah nur immer auf das Bild. Irgendwann hielt Valerija es nicht mehr aus, sie sprang auf, riss die Gardinen und Fenster auf und ließ frische Luft in das Zimmer. – Was war da?
Garstig, sagte Schiwrin. – Sie war so garstig zu mir.
Valerija wusste nicht, ob sie etwas sagen sollte, ob das stimmte, was ihr Vater sagte, es war alles so lange her. Garstig, hatte er gesagt. Das stimmte, die Mutter konnte garstig sein. Besonders als sie in einem fremden Land war, in dem sie niemanden kannte, und der Ehemann war fort, weil er sich in anderer Leute Erde vergrub. Was nun. Was nun? So ein Besuch dauerte lange, es ging über ihre Kraft und über seine auch. Es hielt sie kaum noch in diesem Zimmer. Sie hatte ihm was geschenkt. Sie hatte ihn besucht. Das musste genügen, sie musste raus hier. Das stickige Gemäuer! Und während sie noch zur Tür hinsah, zu der sie hinauslaufen wollte, klopfte es an genau dieser Tür und schon flog sie beinahe aus den Angeln.
Oijoy! Was das? Oh, Herr Schiwrin hat Besuch!!
Nadjeschda stellte ein Tablett mit Brei und Tee auf den Tisch und schüttelte Valerija herzlich die Hand.
Wie gut, Sie sind gekommen! Ach, das gutt. So viel Freude für Herrn Schiwrin. Charasho. Stalko radosti dlja gospodina Schiwrin.
Valerija bedankte sich steif und hoffte, Nadjeschda sah ihr ihren Unmut nicht an.
Oh, sagte Nadjeschda, können helfen! Wir haben immer keine Zeit! Ihr Vater will nicht essen und nicht trinken, aber muss! MUSS! Geben ihm bitte den Brei und muss alles trinken! Spacibo!
Damit rauschte Nadjeschda davon. Valerija zitterte über diese Zumutung. Sie sollte ihren Vater füttern? Den sie eben mal für zwanzig Minuten wiedergesehen hatte nach sage und schreibe siebzehn Jahren ohne Kontakt außer Ostern und Weihnachten eine Karte?
Ihre Nase flatterte, sie presste die Zähne aufeinander, sie kochte vor Wut. Wie sich diesem Mund nähern, wie dem roten Bart und dem grinden Mund, wie sollte sie jemanden füttern? Dafür gab es doch Leute hier, die wurden dafür bezahlt. Aber sie wusste, tat sie es nicht, galt sie in diesem Haus als schlechte Tochter und sie musste ihren Ruf retten. Was nützte es, den Pflegern hinterherzurennen und allen zu erzählen, wie schlecht Schiwrin sie damals behandelt hatte, dazu war keine Zeit und wie sah das aus. Kurzfristig spielte sie mit dem Gedanken, den Brei in die Toilette zu spülen. Vielleicht konnte er auch den Löffel selber halten, das musste doch irgendwie gehen. Nichts ging. Nichts half. Ohnmächtig vor Wut packte Valerija den Löffel, schaufelte ihn voll Griesbrei und herrschte Schiwrin an: Mund auf!
Schiwrin schaffte es nicht, zu widersprechen, er konnte nicht sagen: Ich mag keinen Brei. Er war hilflos vor seiner schönen Tochter, er war heillos durcheinander vom Anblick seines Enkelsohnes, der keine roten Haare hatte, aber einen jüdischen Namen, er hatte ein Enkelkind, sein Töchterchen war Mutter geworden, die kleine Valerija, sein Herz, sein Alles, er hatte es
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