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Die letzten Dinge - Roman

Die letzten Dinge - Roman

Titel: Die letzten Dinge - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
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ihm? Er hatte sie alle damals hierhergeschleppt, fremd, sich selbst überlassen, in einem Nest bei Kassel, sie konnten die Sprache nicht, viel weniger die Mutter, er hatte sie in Deutschland ausgesetzt und sie dann allein gelassen.
    Telegrafenmast um Telegrafenmast zog an ihr vorbei, die rotgoldene Sonne über der BASF, schwer schob sich der Zug jeden Meter weiter, es war, als hielte er sich an den Gleisen fest, als wollte er nicht voran, wie ein Kind, dessen Schlitten zu schnell den Hügel herunterfuhr.
    Heute war Valerija glücklich verheiratet. Ihr Mann betete ihre Schönheit an. Mein russisches Schneewittchen, sagte er immer. Sie sei ein wenig biestig, aber sie sei nun mal sein Schneewittchen. Das solle nur jeder sehen.
    Und jetzt sollte sie ihren Vater wieder ausgraben. Den in sich selbst verschütteten Schiwrin, wie ein Opfer eines Grubenunglückes unter sich selbst begraben. Ein Leben in der Finsternis. Noch immer wohnte der Groll in ihr. Aber weniger Groll, als die Schwester hegte, und weniger als die Mutter. Vielleicht weil Schiwrin ihr am wenigsten von seiner Unansehnlichkeit vererbt hatte. Da konnte sie großzügiger sein.
    Der Zug näherte sich unaufhörlich seinem Ziel. Valerija warf das lange, schwarze Haar auf den Rücken und stand auf. Es war schwer auszusteigen. Aber vielleicht musste sie nur einmal herkommen, nur ein einziges Mal. Dann hatte sie ihre Pflicht getan.

Einen genauen Schnitt  . Den erforderte das Katheterpflaster. Ein Schnitt zu tief, dann war das Pflaster zu klein und reichte nicht über die Kompresse, ein Schnitt zu hoch und das Pflaster klebte auf einem der zahlreichen Bläschen einer malträtierten Haut. Frau Wilhelm ließ sich alles gefallen. Sie packte ihren Bauch fester und zog ihn nach oben, damit Ivy besser kleben konnte.
    Halt, sagte er, noch mal. Verzeihung, ich muss es noch mal abreißen.
    Macht nichts, sagte Frau Wilhelm und verzog vor Schmerz das Gesicht.
    Ivy hatte sich verschnitten. Er verschnitt sich immer, er hatte keine ruhige Hand.
    Das Pflaster entglitt ihm und klebte auf den brandigen Bläschen, er ruckte kurz, eine winzige Pfütze schwappte an dem Plastikröhrchen vorbei aus der Bauchwunde heraus, ein winziges, rotes Bauchrestchen war zu sehen, ein Mützchen aus rohem Fleisch. Aus den zerrissenen Bläschen lief das Wasser.
    Mist, verdammt noch mal.
    Frau Wilhelm tätschelte ihm den Arm.
    Ist nicht so schlimm, mein Junge, wer will auch da noch was festkleben, da ist ja schon alles verklebt, wie viele Jahre habe ich den Katheter schon.
    Aber Ivy brach plötzlich der Schweiß aus. Seine Hände fingen an zu zittern. Kräftige Arme hatte er, aber seine Hände blieben nicht ruhig. Die wilden Nächte, die laute Disco, der Fredderik, der nur auf Partys zu finden war, der Fredderik, der niemals schlief. Hatte er Fredderik erst wild gemacht, dann gab er auch keine Ruhe mehr, um vier nicht, um fünf nicht und um sechs Uhr auch nicht. Er musste sich das Zeugs aus dem Leib lassen. So konnte es nicht weitergehen.
    Frau Wilhelm schrie leise auf. Ivy hatte aus Versehen an dem Schlauch gerissen, ein Tropfen Blut quoll aus der Bauchwunde, vermischte sich mit dem gelben Pfützchen, Ivy fluchte.
    Junge, sagte Frau Wilhelm und tätschelte ihm noch mal die Hand. – Du bist ein guter Junge. Aber vielleicht holst du mal Schwester Rosalinde.
    Gereizt schüttelte Ivy das verklebte Pflaster von seinen Händen.
    Das geht schon. Ich habe mich nur eben vertan.
    Er tupfte die Wunde sauber, desinfizierte sie und klebte schließlich das Pflaster mit Kompresse recht und schlecht über den Katheter.
    Sehen Sie? Geht doch.
    Gottseidank hatte Frau Wilhelm einen so dicken Bauch, dass man den Verband kaum sah, er verschwand in den Tiefen von Nachthemd, Bauchdecke und Bettbezug.
    Ivys Geschicht war hochrot. Er war fertig. Die Nächte machten ihn fertig. Bescheuerte Nächte, Rasen und Sucht und Eifersucht, eine endlose, kopflose Jagd, ein ewiger Hunger nach Liebe und etwas, das außerhalb seines Selbst stattfand, mit einem Mal hasste er es. – Ich muss aufhören damit, ich muss aufhören. Fredderik … Fredderik war so komisch gegangen heute Morgen. Nein er, er selbst war komisch gewesen. Manchmal verstand er sich selbst nicht. Heute wollte er Fredderik nicht sehen.
    Sonst konnte er auch morgen nicht arbeiten. Er hatte noch sechs Tage Dienst, sechs von vierzehn am Stück, er musste mal schlafen, das hatte er sich fest vorgenommen. Aber es war auch alles zu viel, Ivy wurde wütend. Der idiotische

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