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Die letzten Dinge - Roman

Die letzten Dinge - Roman

Titel: Die letzten Dinge - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
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Pflegeheime für junge Menschen.
    Wenn er nur nicht so bösartig wäre.
    Er kann ja nichts dafür. Als Kind immer im Gipsbett, wegen dem Rücken da. Dann ein Schlaganfall und dann eine Schädelverletzung, durch einen Unfall. War schon heftig. Den hat das Schicksal kreuzlahm geschlagen. Er hat sozusagen keine Kontrolle über seine Aggressionen. Irgendso’n Schädellappendings. Wir könnten ihn höchstens zudröhnen, das will ja keiner. Wenn er in die Psychiatrie kommt, wird er zugedröhnt. Hast du noch Fisch übrig?
    Nee. Mittag ist vorbei. Lange schon.
    Musst mir mal was aufheben!
    Ivy zwinkerte und steckte die Hände in die Hosentaschen. Es ging ihm gut. Bis jetzt noch. Er war froh über jede Stunde, die er gut gearbeitet hatte, ohne dass ihn die Nachwehen der Nacht einholten. Der Nacht, die ihm alles gegeben hatte, was er sich wünschte. Vielleicht zu viel. Nach einem Dreivierteljahr, drei Wochen und fünf Tagen war es auf einmal zu viel. Was war nur in ihn gefahren? Sehr unbehaglich das Ganze, besser nicht daran denken. Es schmeckte aber noch nach Blut.
    Er hatte den Impuls, Lotta noch einmal im Genick zu fassen. Dann ließ er es. Ach nein, lieber doch nicht.
    Lotta betrachtete ihn verstohlen. Sie spürte noch seinen Griff im Nacken. Ivy hatte heute ein Muskelshirt angezogen. Ein Muskelshirt! Wer sollte ihn denn bewundern, hier im Altersheim.
    Aber da kam schon die Erste, es war das Sotzbacher Mädchen. Sie wackelte hin und her an ihrem Stock, strahlte Ivy an und ihre leuchtend weißen, kurzen Haare waren zu einer Irokesenfrisur hochgekämmt.
    Gell, du hast mich gern?
    Ivy lachte schallend.
    Aber klar, mein Sotzbacher Mädchen! Und wie! Du bist doch mein bestes Stück!
    Und er legte den Arm um sie und schüttelte sie kräftig.
    Wieso haben Sie denn heute eine Irokesenfrisur?, fragte Lotta.
    Ouh, das habe ich gemacht. Ich fand, es steht ihr ganz gut, sagte Ivy.
    Gell, ich hab noch schönes Haar?, fragte das Sotzbacher Mädchen.
    Ja ja, sehr schönes Haar, sagte Lotta.
    Dann kam Alwis orientierungslos mit dem Gehwagen herangewackelt.
    Deddededei, sagte Alwis.
    Sag doch nicht immer deddededei, sagte das Sotzbacher Mädchen.
    Also, ich weiß nicht, sagte Lotta.
    Sie fuhr Frau Siefert über die Haare, bis der Irokesenkamm kippte und sie endlich wieder aussah wie ein braves, altes Mädchen.
    Oooch, sagte Ivy. – War doch gerade so schön.
    Ich bin das älteste Sotzbacher Mädchen. Und ich bin hier geboren. Hier im Haus.
    Sie stand auf und klopfte Ivy an die Brust.
    Ich hab euch alle gern. Gell, ihr habt mich aach gern?
    Deddededei, sagte Alwis.
    Ach Mädel aus Sotzbach, du bist die Schärfste.
    Und er nahm sie hoch, schleuderte sie einmal im Kreis und das Sotzbacher Mädchen kreischte mit zahnlosem Mund. Ivy setzte sie wieder ab, sie kicherte, er fuhr ihr durch die Haare und stellte den Irokesenkamm sorgfältig wieder auf.
    Ou Mann, ich muss weiter. Muss noch die Frau Sturm ins Bett bringen und den Heller, dann soll ich noch ’n paar wiegen, ou Mann, vor allem muss ich mal eine rauchen. Das ist das Wichtigste. See you later.
    Ivy stopfte sich das enge T-Shirt in den Hosenbund, fummelte was am Handy, drehte sich auf dem Absatz um und ging breitbeinig davon. Frau Schlecker fuhr heran.
    Fahr mich mal ein bisschen.
    Mir ist ganz schwindelig, sagte das Sotzbacher Mädchen.
    Deddedei, sagte Alwis.
    Und Ihnen? Wie geht es Ihnen?, fragte Lotta.
    Beschissen, krähte Frau Schlecker.
    Krieg ich noch ’n Kaffee? fragte das Sotzbacher Mädchen. – Ich hab noch gar nix gekriegt. Alle anderen haben Kaffee gekriegt, aber ich, ich krieg immer gar nix.
    Deddedei, sagte Alwis.

Es war ein weiter Weg  . Von Ulm nach Mannheim, von Mannheim hier hoch. Ein Weg, so weit wie von Frankfurt bis Wladiwostock. Ein Weg, den sie nie wieder zurücklegen wollte, nie wieder. Aber was konnte sie gegen die russische Schwester schon ausrichten. – Er ist doch Ihr Vater, hatte sie gesagt. Kommen Sie!
    Auf diesen Ton reagierte Valerija immer noch. Nachdem sie den Rest ihrer Kindheit in Deutschland verbracht hatte. Aber den sozialistischen Befehlston aus dem Kader hatte sie zutiefst verinnerlicht. Außerdem musste man einem Menschen, der im Sterben lag, einen Wunsch erfüllen. Auch wenn er sie noch so geärgert hatte, der Vater, der nie für sie da war, der ihr keine Geschichten erzählt hatte, der mit der Mutter nicht sprach, mit ihr nicht sprach, mit niemandem sprach, außer vielleicht mit den Fröschen und Mäusen unter der Erde. Was sollte sie mit

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