Die letzten Dinge - Roman
wunderbar bequem war. Glück gehabt. Einfach nur Glück gehabt. Einen Job und ein Zimmer, vierzehn Tage nach ihrer unrühmlichen Heimkehr aus England. Mehr brauchte sie nicht. Mehr wollte sie nicht. Nur einen Unterschlupf und etwas Geld, um hier wieder Fuß zu fassen. Gottseidank. Jetzt konnte sie Luft holen.
Konnte man Luft holen in einem Zimmer, das über einem Pflegeheim lag? War das Luft? Lotta riss das halbrunde Fenster auf und sogleich pfiff ein ordentlicher Wind in das Zimmer hinein. Luft aus dem Rhein-Main-Gebiet. Na ja. Besser, als weiterhin bei ihrem Bruder zu leben, dessen Frau sie schon auf die Nerven ging. Sie könnte es sich hier gemütlich machen, hatte die Pflegedienstleiterin gesagt. -Sie können Bilder aufhängen, natürlich – ein Mobile oder was … ich meine, Sie werden ja nicht gleich die Wände einreißen, nicht?
Nein, Lotta hatte keineswegs vor, die Wände einzureißen, dafür hatte sie jetzt keine Kraft. Höchstens mal auf dem Dachboden herumstöbern, sehen, was es alles gab, Lotta war zufrieden damit, alles im Zimmer auszuprobieren: das Licht, den Kühlschrank, das Telefon. Alles funktionierte. Das Zimmer war hell gestrichen, das Bad war groß und weiß, so groß, wie sie es in England nicht gehabt hatte. Eine schöne, bequeme Badewanne mit einem breiten Rand für Shampoo und Schwamm und Buch. Da stand noch eine Flasche Badedas. Unwiderstehlich. Wer hatte wann sein Badedas hier vergessen? Es hieß, das Zimmer habe lange leer gestanden. Aber alles roch gut und frisch, als hätte man es extra für sie hergerichtet.
Sollte sie jetzt gleich ein Bad nehmen, oder erst noch ihren Bruder anrufen? Er konnte dann auch die Eltern informieren. Wenigstens. Er verstand sich ja mit den Eltern sowieso besser als sie. Er war auch nie mit einem Arbeiter aus Manchester durchgebrannt.
Lebenserfahrung ist das! hatte Lotta gesagt.
Aber die Eltern hatten darauf bestanden, Lotta zu verzeihen, und Lotta wollte nicht verziehen bekommen. Jetzt bestanden die beiden darauf, mit Lotta wieder liebevoll ins Gespräch zu kommen und über die vergangenen Jahre zu reden. Aber Lotta wollte nicht über die vergangenen Jahre reden. Und darum drückte sie sich vor ihrem katholischen Dorf und blieb lieber in der Stadt, auch wenn sie dort kaum mehr jemanden kannte. Sie hatte nicht gewusst, wie kaum mehr. Nun ja, sie würde die alten Freunde schon wieder aufstöbern. Irgendwo. Oder sie suchte sich eben neue Freunde. Es gab so viele Menschen auf der Welt.
Lotta ließ sich aufs Bett fallen. Das Bett war schön. Funkelnagelneu, frisch zartgelb bezogen, ein Bett aus schönem, hellem Buchenholz mit dem Geruch von Möbelhäusern. Außerdem hatte das Bett Hebel, Bremsen und Rollen. Ein Bett, mit dem man allerlei anstellen konnte. Lotta probierte im Liegen einen Hebel. Das Bett fuhr langsam hoch. An einem anderen Hebel fuhr es wieder herunter. Bei diesem Knopf hob sich das Fußteil. Bei jenem das Kopfteil. Das war großartig. Dann sah sie unter dem Laken weiße Streifen hindurchschimmern, Streifen von der Matratze. Lotta stand auf, streifte das Laken an einer Ecke zur Seite und starrte entsetzt auf den schlichten, grauen Stoff mit den dicken eingewebten weißen Balken unterschiedlicher Breite. Vielleicht war die Matratze fünfzig Jahre alt. Oder hundert. Es war eindeutig dieselbe Matratze, wie sie unten auf der Station verwendet wurde. Plötzlich wurde Lotta von dem Gefühl befallen, in dem Bett könnte schon jemand gestorben sein. Oder zwei. War doch möglich? Wer weiß, wer hier schon drauf gelegen hatte und seinen persönlichen Abdruck in Rosshaar und Schaumstoff hinterlassen hatte?
Das war grauenhaft. Wie man sich bettet, so liegt man, dachte Lotta. Nicht dran denken, sie durfte einfach nicht dran denken. Lotta stopfte ganz schnell das Laken wieder fest und versteckte die Matratze noch unter zwei Lagen Bettbezug und Blumenwäsche. Es hatte hier nie eine Altersheimmatratze gegeben, sie hatte das graue Teil nie gesehen, sie schlief auf einer schlichten guten Unterlage und wollte nie wieder daran denken.
Ging sie lieber in die Badewanne und las ein schönes Buch. Lotta sah in den Spiegel. Ihr brauner langer Zopf hatte sich gelöst. Sie hatte grüne Augen und eine kleine Narbe mitten auf der Stirn. Als Kind war sie vom Baum gefallen und hatte dieses Mal behalten, sie erinnerte sich noch an das viele Blut. Lotta hat ein Loch im Kopf, hatten sie gesagt. Jetzt war das Närbchen angefüllt mit vertrocknetem Schweiß. Schnell in die
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