Der rote Salon
»Bringen wir es hinter uns!«, befahl Distel. »Bitte nur das obere Stück.«
Der Meister des dunklen Orts nickte lächelnd und führte uns zu drei gemauerten Tischen. Mit einem Schwung, der mich schon früher entgeistert hatte, da er seinem ehrwürdigen Amt nicht recht zu Gesicht stand, enthüllte mir der Lächler das Antlitz einer Dämonin: das Gesicht gedunsen, die Pupillen schreckhaft geweitet, die Augäpfel grausig nach links unten verdreht, wodurch Stauungsblutungen sichtbar wurden, die auf dem vormals perlmuttweißen, jetzt cremefarbenen Grund wie braune Faulstellen wirkten. Der Mund war nicht offen, trotzdem hing die Zunge heraus. Sie schien nur an einem kleinen Ende zu baumeln – abgebissen im Erstickenskrampf. Eine rote Linie lief um den Hals, sehr dünn, was auf eine filigrane feste Schnur als Tatwerkzeug hindeutete.
»Anne de Pouquet!«, entfuhr es mir, und ich hielt mich heftig aufschluchzend an Jérôme. Dafür – unter anderem – verfügen Frauen über Ehemänner ... um sich in der Rechtsmedizin, wenn ihnen eine Leiche gezeigt wird, an ihren Arm gekrallt, ausweinen zu können. Und so die Form zu wahren. Frauen müssen aufschluchzen, krallen und eisern geradestehenden Ehemännern die Samtschultern mit Tränen benetzen!
»Was ist mit ihr geschehen?«, fragte der braunsamtschulterne Jérôme.
Mein früheres Interesse an Gewaltverbrechen war zeitweilig so groß, dass ich tiefe Blicke in einschlägige Handbücher warf und daher die auffälligen sekundären Merkmale der Tötungsart leicht wiedererkannte.
»Stranguliert!«, brachte ich gepresst hervor, als hätte ich es auf die lächelnde Anerkennung abgesehen, die Theden erfreut nickend bezeugte, während er sich zwischen die beiden Tische linkerhand stellte. Seine Fleischerschürze glomm schwachrosa im Funzellicht der Unschlittlampen. Mir schwindelte und die Brust ward mir eng. Auch breitete sich ein Gefühl in meinem Bauch aus, so widerwärtig, dass mich der Ekel fast überwältigte.
Was war geschehen? Ich dachte an unsere gemeinsamen Monate. Der Geist konnte diese Tote nicht mit der Lebenden meiner Erinnerung in eins setzen. Alles in mir sträubte sich, das Offensichtliche zu akzeptieren.
»Es geschah das Gleiche mit ihr wie mit diesen beiden!«, sagte Theden und ließ mit viel Elan die Kopf- und Brustpartien zweier weiterer Dämonen vor unseren Augen erscheinen, indem er die oberen Drittel der Laken synchron mit den Händen umklappte.
Während ich dies schreibe und auf die träge dahinziehende Havel blicke, lenkt mich eine reisefertige Schwalbengesellschaft im Schilf ab. Diese kleinen, unermüdlichen Vögel zögern wie die Störche noch immer, nach Süden zu ziehen. Das reißt meine Gedanken kurz aus dem Strudel der Erinnerung und lässt sie in sanfterem Fahrwasser Atem schöpfen. Ich verlasse für eine kleine Schleife den Ort des Schreckens, die Berliner Pathologie, in der ich 1793 so verlorenund fassungslos stand, und lasse den Geist aufsteigen und zu meinem geliebten Ehemann Jérôme fliegen.
Kaum einen Monat ist es her, dass er mit dem Ballon aufstieg. Er hat guten, stetigen Wind erwischt und bis Paris nur glückhafte sechs Tage gebraucht, wie er schreibt, davon drei in einer Kutsche, da auch der schönste, nach Südwest blasende Antizephyr mitunter auf Abwege gerät. Jérôme fährt nicht ohne Begleitung: Ein Freund und leidenschaftlicher Aeronaut ist bei ihm, was mich einigermaßen beruhigt. Gestern kam ein Brief aus Straßburg mit einer Zwischenbilanz. Die meteorologische Sektion der Pariser Akademie wird ein Dutzend Wetterballone kaufen nebst zehn achromatischen Taschenperspektiven, die geographische Abteilung überdies fünfzehn Lochkameras mit Zeichenaufsatz für die Feldvermessung und fünf Theodolite! Den Vogel aber schießt der schwerreiche Baron von Walmoden ab, dem Jérôme in Nancy in den Schlossgarten fiel. Er hat vor Begeisterung über dieses Ereignis einen Aerostaten mit einem Volumen von 250 000 Kubikzoll in Auftrag gegeben. Ich tat einen Luftsprung, als ich weiterlas: »Dieser Enthusiast akzeptierte 25 Tsd. Livres ohne Wimpernzucken! Und er wird nach Kanzow kommen, um von uns die Technik der Aerostation zu erlernen!«
Unsere Existenz, die ganz auf das atmosphärische Element, auf Licht und edelste Handwerke gegründet ist, scheint damit wieder für ein Jahr befestigt. Endlich werden wir die Schule bekommen, die so dringend benötigt wird, und einen richtigen Hofmeister für die Kinder in unserer Kolonie wird es somit
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