Die letzten Gerechten: Roman (German Edition)
einen, der wirksam neutralisiert ist, denn meine ganze Macht liegt im Heer und nicht in Chartres. Dass du geflohen bist, Cale, brachte die Angelegenheit zu schnell voran.«
»Oder Ihr habt ihnen zu viel Zügel gelassen«, gab Cale zu bedenken.
»Das war nicht der Fall. Fast seit dem Tag deiner Rückkehr in die Burg habe ich dreihundert Heeresoffiziere für unsere Sache gewonnen. Sie haben begriffen, dass die Menschheit nicht mehr zu heilen ist und dass du die Lösung des Problems darstellst. Sie werden bald hier ankommen. Du wirst diese schon jetzt sehr fähigen Männer weiter ausbilden, und jeder von ihnen wird dann dreihundert weitere ausbilden, und so weiter. Innerhalb von zwei Jahren wirst du auf diese Weise insgesamt viertausend Offiziere vorbereitet haben. Und dann werde ich bereit sein, gegen Gant und Parsi vorzugehen. Wenn wir dabei Erfolg haben, werden wir nach Chartres gerufen, um den Papst zu retten.«
»Und wie soll das geschehen?«
»Darüber brauchst du dir keine Gedanken zu machen.«
»Aber ich mache mir Gedanken.«
»Dann verjage sie aus deinem Kopf.«
»Was ist Samit?«
»Seide. Ein sehr schweres, weißes Seidengewebe.«
Es war keineswegs so, dass Cale Bosco die Sache mit Avalon geglaubt hätte, obwohl es Bosco sicherlich ernst gemeint hatte, dass ein solcher Ort existierte, aber Cale ärgerte sich über die Vorstellung, die Bosco offenbar von den Vergnügungen hatte, die ihn, Cale, dort erwarten und befriedigen würden.
»Die letzte Person, die ich in schwerer, weißer Seide gesehen habe, war irgendein Erzbischof, der ein Hochamt zu Ehren Gottes zelebrierte. Vier Stunden, das war schon schlimm genug. Falls es Euch noch nicht aufgefallen sein sollte: Ich gehöre nicht zu den Leuten, die ständig Hosianna singen.«
»Warum denn auch? In Avalon wirst du von zweiundsiebzig Geschöpfen umgeben sein, die auch nicht gerade als Engel gelten.«
»Und das heißt?«
»Sie waren weibliche Geister, geringer als die Engelrebellen, mit denen sie sich zusammenschlossen, denn sie waren unzufrieden mit ihrem Platz im Himmel. Aber zweiundsiebzig von ihnen bereuten ihr Tun, schon bevor Gott den endgültigen Sieg errungen hatte; sie merkten, dass sie selbst das Wenige, das sie hatten, verlieren würden, und so flehten sie Gott unter Tränen um Barmherzigkeit an. Gegen den Rat der Gottesmutter, die in ihnen nichts weiter als berechnende Schlampen sah, verbannte sie der barmherzige Gott nach Avalon– einerseits als Anerkennung ihrer Reue, andererseits als Strafe für ihre Glaubensschwäche. Dort warten sie auf dich und werden dir auf jede Weise dienen, die du dir wünschst.«
»Etwa wie Nonnen im Kloster?«
»Das wirst du selbst entscheiden müssen– und deshalb vermute ich, dass sie dir keineswegs wie Nonnen im Kloster dienen werden.«
»Und woher wollt Ihr das wissen?«
»Das wurde mir in der Wüste offenbart.«
ZWEITES KAPITEL
N
ach Janes kann das Herz eines Kindes neunundvierzig Schläge verkraften, bevor es für immer geschädigt wird und das, was geschehen ist, niemals mehr ungeschehen gemacht werden kann.
Stellen wir uns nun Thomas Cales Herz vor, den seine Eltern für ein paar Kreuzer verkauften, der mit Schlägen ernährt und durch Mord gestählt wurde und der dann vom einzigen Lebewesen verraten wurde, das ihm jemals Liebe entgegenbrachte– was bekanntlich besonders schwer wegzustecken ist.
Dem Selbstmitleid sollte man niemals mit Verachtung begegnen, aber doch beachten, dass es die schärfste aller Säuren ist, die sich durch die menschliche Seele fressen. Selbstmitleid ist ein universal wirksames Lösemittel, das jeden Versuch, eine Seele zu retten, zersetzen kann.
Stellen wir uns nun vor, welches Gift an jenem Nachmittag und während der Nacht am Tigerberg in Cales Brust gegossen wurde. Betrachten wir den Schaden, der verursacht wurde, und blicken wir auf die gewaltige Macht, die ihm angeboten wurde, um damit den Schaden wieder zu beheben.
Es widerspricht nicht der Vernunft, wie der Engländer sagt, eher die Zerstörung der ganzen Welt hinzunehmen als einen Kratzer am Finger– und wie viel leichter ist das zu begreifen, wenn derselbe Preis für eine tiefe Schnittwunde in der Seele gezahlt würde.
DRITTES KAPITEL
A
ls sich Vague Henri, IdrisPukke und Kleist entschlossen, Bosco und seine kostbare Beute vorsichtig zu verfolgen, hatten sie eigentlich damit gerechnet, dass er sich geradewegs in die sichere Ordensburg zurückziehen würde. Der lange Umweg, den Bosco
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