Die letzten Gerechten: Roman (German Edition)
war und auf dem sie wie ein enormer schwarzer Zahn wirkte, der mitten in die Wüste gepflanzt worden war. Die Burg war nicht gebaut worden, um andere mit ihrem Anblick zu erfreuen, einzuschüchtern, etwas zu verherrlichen oder zu prahlen. Vielmehr sah sie so aus, wie es ihr Zweck erforderte: erbaut, um manche Menschen unter allen Umständen draußen und andere Menschen unter allen Umständen drinnen zu halten. Dennoch war sie nicht leicht zu beschreiben: nüchterne, geradlinige Mauern, Gefängnis, Ort grimmiger Anbetung, durch und durch graubraun. Eine besondere Vorstellung war, dass sie genau dies sein sollte: wie in Beton gegossene Menschen.
An einer Seite des gewaltigen Tafelberges wand sich eine Straße hinauf, und auf dem gesamten Weg hämmerte Cales Herz gegen die knorpelige Falltür, um sich ins Vergessen zu stürzen– doch das Vergessen wollte sich nicht einstellen. Die gewaltigen Burgtore öffneten sich und schlossen sich wieder. Und das war’s. All die Waghalsigkeit, sein Mut, seine Intelligenz, sein Glück und Tod und Liebe und Schönheit und Freude, all die Schlachten und der Verrat– all das hatte ihn wieder genau an den Ort zurückgebracht, von dem er vor noch nicht einmal einem Jahr aufgebrochen war. Es war gerade die kanonische Stunde des Non, und so befanden sich alle in einer der Dutzend Kapellen beim Gebet– die Klosterschüler beteten um die Vergebung ihrer Sünden, die Mönche um die Vergebung der Sünden ihrer Schüler.
Wäre Cale nicht so unglücklich gewesen, wäre ihm vielleicht aufgefallen, dass ihm nicht ein gewöhnlicher Mönch vom Pferd half, sondern der Bruder Stallmeister höchstpersönlich, und zwar mit außerordentlicher Ehrerbietung. Bosco, der sich mit einem gewöhnlichen Stallknecht begnügen musste, schritt voran und winkte Cale mit sich zu einer Tür, die dieser während seiner ganzen Zeit in der Ordensburg kaum jemals bemerkt hatte, weil es den Klosterschülern verboten war, sich auch nur in ihre Nähe zu wagen. Nun wurde sie ihm vom Bruder Stallmeister geöffnet, der ihn weiter geleitete, nicht wie ein übergeordneter Mönch, sondern wie ein dienstbeflissener Führer. Sie gingen durch die braune Düsternis, die die Ordensburg überall kennzeichnete, aber selbst in den Abgründen seines Unglücks wurde Cale allmählich bewusst, wie seltsam es doch war, dass er in diesen Gemäuern sein ganzes Leben verbracht hatte und nun in kurzer Zeit riesige Teile des Gebäudes zu sehen bekam, von deren Existenz er bisher keine Ahnung gehabt hatte. Graubraun war sie auch hier wie die gesamte Burg, aber doch anders. Es gab Türen! Hier gab es überall Türen, und vor einer blieben sie stehen. Sie öffnete sich, und man bedeutete ihm einzutreten, aber jetzt ging niemand mehr vor ihm, und nur Bosco folgte ihm. Der Raum war groß und mit vielen braunen Möbelstücken ausgestattet. Und er schien ihm auf bedrückende Weise vertraut zu sein, denn er glich dem Raum, in dem er den Erlösermönch Picarbo getötet hatte. An diesen Raum schloss sich sogar noch ein Schlafzimmer an. Diese Räumlichkeiten waren nur für die Mächtigen bestimmt.
»Du wirst hier zwei Tage lang bleiben müssen, vielleicht auch drei. Vorbereitungen müssen getroffen werden, ich bin sicher, dass du das verstehst. Man wird dir das Essen bringen; solltest du etwas benötigen, genügt es, an die Tür zu klopfen, dann wird dein…«– Bosco schien das richtige Wort nicht sofort einzufallen– »…dein Wärter dafür sorgen, dass man es dir bringt.« Bosco nickte ihm zu, es war fast eine kleine Verneigung, dann ging er und schloss die Tür hinter sich. Cale starrte auf die geschlossene Tür, voller Staunen, dass er nicht nur einen Wärter hatte, sondern auch alles fordern konnte, wonach ihm verlangte. Aber was könnte es in der Ordensburg überhaupt geben, wonach es jemanden verlangen würde? Doch wie sich zeigen sollte, erwies sich Cales durchaus berechtigte Annahme, dass es tatsächlich nichts Derartiges gebe, als vollständig falsch.
Unterdessen musste sich Bosco um viele sehr dringende Probleme kümmern. In den Augen von Cale, Henri und Kleist erschien Bosco unter den Ordensmönchen als absolute Autoritätsperson. Doch dies war bei Weitem nicht der Fall. Es mochte stimmen, soweit es die Klosterschüler und Novizen und viele, darunter sogar höherrangige, Ordensbrüder anging. Seine Autorität mochte sich über die gesamte Ordensburg erstrecken, aber so wichtig er hier auch war, so lag das Machtzentrum des Glaubens bei
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