Die letzten Gerechten: Roman (German Edition)
mich auch nicht daran erinnern, dass Cale jemals ein gutes Wort über ihn verloren hätte.«
»Cale hat ihm das Leben gerettet.«
»Und er hat Cale am Silbury Hill das Leben gerettet– und nicht nur einmal.«
Henri schnaubte gereizt. »Und was ist mit mir? Er war doch angeblich mein Freund!«
»Hast du ihn jemals gefragt, ob er mit uns kommen wollte?«
»Er hat nichts dagegen gesagt, als wir aufbrachen.«
»Mag sein, aber jetzt sagt er uns etwas.«
»Warum kann er mir das nicht ins Gesicht sagen?«
»Vermutlich, weil er sich schämte.«
»Na bitte, sag ich doch.«
»Nichts na bitte. Zugegeben– nach den höchsten Standards der Lauterkeit hätte er dir seine Gründe persönlich und vollständig erläutern müssen. Du behauptest ja, sein Freund zu sein, aber hat Kleist jemals erwähnt, dass ihm Lauterkeit wichtig ist?«
Henri ließ den Blick umherschweifen, als hoffte er, jemand anders zu entdecken, der sein Argument unterstützen würde. Er sagte geraume Zeit nichts mehr, doch dann lachte er plötzlich auf– es klang teilweise belustigt, teilweise enttäuscht. »Nein.«
IdrisPukke konnte der Versuchung nicht widerstehen, weiter zu moralisieren, und fuhr selbstgefällig fort: »Es ist sinnlos, den Leuten vorzuwerfen, dass sie so sind, wie sie sind, und dass sie ständig nur ihr eigenes Interesse im Auge haben. Welche Interessen sollten sie sonst beachten? Deine? Kleist weiß genau, was ihm droht, wenn er wieder gefangen würde. Warum sollte er einen so grausamen Tod für jemanden riskieren, den er nicht einmal mag?«
»Und was ist mit mir?«
»Warum sollte er einen so grausamen Tod für jemanden riskieren, den er mag? Du musst wirklich sehr von dir überzeugt sein.«
Dieses Mal lachte Henri nicht aus Enttäuschung. »Aber warum seid Ihr dann mitgekommen? Die Erlöser werden mit Euch nicht viel freundlicher umgehen als mit mir.«
»Ganz einfach«, antwortete IdrisPukke. »Ich habe zugelassen, dass Zuneigung meine Vernunft und Urteilsfähigkeit verdrängt.« IdrisPukke drängte es auch jetzt, eine weitere seiner Lieblingsvorstellungen ausführlich zu erläutern. »Deshalb ist es auch viel besser, gar keine Freunde zu haben, wenn man genug Charakterstärke besitzt, um ohne sie auszukommen. Am Ende werden nämlich Freunde stets zu irgendeinem Ärgernis. Aber wenn du schon Freunde haben musst, dann lass sie in Ruhe. Mach dir klar, dass du jedem das Recht zugestehen musst, in Übereinstimmung mit seiner eigenen Wesensart zu leben, was auch immer sich daraus ergibt.«
Schweigend packten sie ihre Sachen und machten sich wieder auf den Weg. Nach geraumer Zeit stellte Henri seinem Gefährten eine überraschende Frage.
»IdrisPukke, glaubt Ihr an Gott?«
Er zögerte nicht mit der Antwort. »In mir ist wenig Güte oder Liebe, wie auch überhaupt in der Welt, um dieses Wenige an imaginäre Wesen zu verschwenden.«
VIERTES KAPITEL
E s ist allgemein bekannt, dass das Herz in eine Röhre eingebettet ist und dass es bei einem ausreichenden Maß an Unglück durch die Röhre fallen kann, die man gemeinhin Spundloch oder Atemloch nennt und die in der Magengrube endet. Am Ende des Spundlochs oder Atemlochs befindet sich eine Art Fallklappe, die aus Knorpeln besteht. Früher, wenn ein Mann oder eine Frau eine bittere Enttäuschung erlebte, sprang die Knorpelklappe auf, das Herz fiel hindurch und verschaffte Menschen, die zu großen Schmerz erlebt hatten, schnelle und barmherzige Erleichterung, weil das Herz dort unten einfach zu schlagen aufhörte. Heutzutage allerdings ist so viel Schmerz in der Welt, dass kaum jemand noch am Leben wäre, und deshalb hatte die allbeschützende Natur die Knorpelklappe dazu gebracht, das Atemloch dauerhaft zu sichern, sodass es sich nicht mehr öffnen kann und das Leiden, so furchtbar es auch sein mochte, einfach ertragen werden muss. Das war Cale nur recht, als der Anblick der Ordensburg aus dem Morgendunst auftauchte, so grimmig wie Stein gewordene Strafe. Auf dem letzten Streckenabschnitt hierher hatte er ständig die kindische Hoffnung gehegt, die von irgendwo in der Tiefe seiner Seele aufgetaucht war, dass die Ordensburg vielleicht inzwischen durch Feuer und Schwefel vollkommen zerstört worden sein könnte. Das war nicht der Fall. Die Ordensburg hockte breit und fest am Horizont, unveränderlich in ihrer betonierten Wachsamkeit, und wartete auf seine Rückkehr, so solide und selbstsicher, als sei sie auf dem flachen Bergrücken festgewachsen, auf dem sie errichtet worden
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