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Die letzten Kinder von Schewenborn

Die letzten Kinder von Schewenborn

Titel: Die letzten Kinder von Schewenborn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gudrun Pausewang
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darüber. Dann ging sie in ihre Kammer hinüber. Heute hatte sie ihre freie Nacht, während die Mutter im Schloß bei den Kindern schlief. Aber ich war sicher, daß Judith in dieser Nacht wach blieb. Als mein Blick auf die Strähne fiel, die noch immer auf der Armlehne lag, konnte ich mich nicht mehr beherrschen. Ich preßte mir das Kissen auf den Mund und weinte.
    Am nächsten Tag kam ich gerade dazu, wie Kerstin hinter Judith herlief und quengelte. Als sich Judith nicht nach ihr umdrehte, zog sie sie am Haar. Judith fuhr zornig herum. Kerstin ließ los, aber eine Strähne blieb ihr in der Hand. Judith entriß sie ihr und stopfte sie sich hastig in die Hosentasche. Kerstin schielte sie schuldbewußt an und wunderte sich, daß ihr Judith keine Ohrfeige gab.

6
    Schon zwei Wochen nach dem Bombentag war das geschehen, was alle längst erwartet und gefürchtet hatten: Die ersten Typhusfälle waren aufgetreten. Zwar hatte man versucht, sie wegzureden. Wer einen Typhuskranken im Haus hatte, versteckte ihn und ließ ihn irgendeine andere Krankheit haben. Viele wußten auch wirklich nicht, daß sie's mit Typhus zu tun hatten. Wer hatte denn schon Erfahrung mit dieser Krankheit? Hohes Fieber und Durchfall - das konnte auch eine besonders heftige Darmgrippe sein oder die Strahlenkrankheit.
    Aber jetzt, ein paar Tage nach meinem Geburtstag, griff die Seuche wie rasend um sich. In jedem Haus lagen Kranke. Es hatte keinen Zweck, sie zum Hospital zu bringen. Es gab weder Platz noch Medikamente. Und die Ärzte schafften die Arbeit nicht. Sechs Ärzte hatte Schewenborn vor dem Bombentag gehabt. Einer war gerade in Urlaub gewesen. Er kam nie wieder zurück. Ein anderer war auf dem Weg nach Fulda umgekommen, ein dritter vor dem Haus eines Patienten von Trümmern erschlagen worden. Und nun bekamen kurz nacheinander zwei von den drei letzten Ärzten Typhus. Der eine starb, der andere blieb noch wochenlang so geschwächt, daß er nicht auf die Beine kam. Der letzte arbeitete allein weiter, aber er konnte nicht mehr viel helfen. Er hatte keine Medikamente, kein Verbandszeug, kein Desinfektionsmittel mehr. Er mußte die Kranken sich selbst überlassen. Ich sah ihn noch ein paarmal durch die Reihen gehen und freundlich nach rechts und links nicken. Aber er blieb nirgends mehr stehen, beugte sich über keinen Kranken mehr, antwortete nicht mehr auf das Gejammer. Eines Tages fand man ihn tot in der Waschekammer.
    Noch einmal begannen die Schewenborner auf Hilfe von außen zu hoffen. Gerüchte liefen um: Ein Rote-Kreuz-Konvoi sei in Richtung Schewenborn unterwegs, mit Personal, das auf Typhus-Epidemien spezialisiert sei.
    »Na also«, hörte ich Frau Kramer sagen. »Endlich. Deutschland ist schließlich keine Insel. Sind uns die anderen nicht Hilfe schuldig? Haben wir nicht Millionen gespendet für die Erdbebenopfer in Italien? Haben wir nicht Tausende von Paketen nach Polen geschickt?«
    »Vielleicht sieht es in Polen jetzt nicht anders aus als hier?« antwortete ihr mein Vater. »Vielleicht gibt es gar kein Italien mehr. Vielleicht ist ganz Europa kaputt.«
    Da nannte Frau Kramer ihn einen Miesmacher.
    Jemand wollte sogar einen Hubschrauber gesehen haben - eine Nachricht, die ganz Schewenborn in helle Aufregung versetzte. Aber als kein Konvoi ankam und kein Hubschrauber erschien, brach alle Hoffnung und damit auch das letzte bißchen Ordnung in Schewenborn zusammen. Niemand kochte mehr Suppe für die Kranken, Waisen und Obdachlosen. Sie blieben sich selbst überlassen. Niemand wollte mehr die Toten begraben, obwohl jetzt das zweite große Sterben begonnen hatte.
    Die letzten Krankenschwestern und Pfleger erschienen nicht mehr im Hospital. Jeder versuchte, sich in Sicherheit zu bringen. Wer noch laufen, wer noch kriechen konnte, verließ das Hospital, denn darin lagen bald mehr Tote als Lebendige.
    Viele Schewenborner und Obdachlose zogen Hals über Kopf in die Wälder und kampierten dort in Zelten. So hofften sie, der Seuche entgehen zu können. Aber sie trugen den Typhus schon in sich, wurden dort draußen krank und steckten sich gegenseitig an. Den Michi Schubert sah ich nie wieder. Es hieß später, er sei in den Schornbergwäldern gestorben. Die liegen nördlich von Schewenborn und waren vom Feuer verschont geblieben. Dort hatten wir früher oft zusammen Pilze gesucht.
    Wer in der Stadt geblieben war, traute sich aus Angst vor Ansteckung nicht mehr aus dem Haus. Jede Türklinke, jedes Geländer konnte infiziert sein. Jeder Mensch, der

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