Die letzten Kinder von Schewenborn
rotblonden Locken. Sie war nur drei Tage krank gewesen. Auch Silke hatte den Typhus nicht überstanden. Vater und Mutter lagen schwerkrank nebenan. Sie wußten noch nichts vom Tod der beiden. Nur Jens war wieder auf den Beinen. Ihn hatte der Typhus als harmloser Durchfall gestreift. Ich hörte ihn draußen auf dem Hinterhof krähen.
»Ich bin verschont geblieben«, sagte Judith. »Ich bin für was anderes ausersehen.«
Sie bat mich, den Eltern Kerstins und Silkes Tod beizubringen. Sie hatte nicht mehr die Kraft dazu. Aber erst nach ein paar Tagen war ich soweit, daß ich mich zu den Eltern ins Schlafzimmer schleppen konnte. Im ersten Augenblick erkannte ich sie nicht, und auch sie stutzten, als sie mich sahen. Wir waren alle bis auf die Knochen abgemagert. Sie lächelten mir mühsam zu. Nachdem ich meine Botschaft herausgewürgt hatte, schrie die Mutter auf und klammerte sich an den Vater. Der blieb stumm, aber seine Augen füllten sich mit Tränen. Und dann sagte er zur Mutter: »Sie haben's gut dort. Wer weiß, was uns noch bevorsteht.«
»Ach, du mit deinen Plattheiten!« schluchzte die Mutter. Dann rief sie Judith. Die mußte an der Tür gehorcht haben, denn sie schwankte ins Zimmer, noch bevor ich sie hereinholen konnte. Sie war sehr blaß.
»Was hast du mit ihnen gemacht?« fragte die Mutter mit einer fremden, schrillen Stimme.
»Ich hab sie nachts hinter der Werkstatt begraben, neben dem Komposthaufen«, sagte Judith. »Ich hab sie nicht den Männern geben wollen. Aber das Grab ist nicht sehr tief. Ich hatte keine Kraft mehr -«
»O Gott sei Dank«, murmelte die Mutter, »daß sie in die Erde gekommen sind.« Erst später fragte sie, was mit den Kindern im Schloß geschehen sei.
»Ich weiß es nicht«, sagte Judith. »Ich hab nicht alle versorgen können, euch und sie. Ich hab ihnen die Tür aufgemacht und gesagt: ›Geht fort, wenn ihr wollt. Hier ist niemand mehr, der euch zu essen geben könnte. Geht auf die Felder, sucht euch Körner, nagt Maiskolben ab, buddelt euch Kartoffeln aus. Geht in die Wälder, eßt Pilze. Klaut in den Gärten, was sich essen läßt.‹ Ein paar Kinder sind gegangen. Die meisten sind geblieben. Sie haben doch noch gehofft, daß wir wiederkommen. Seitdem bin ich nicht mehr hinübergegangen. Ich will nicht sehen, was dort zu sehen sein wird. Denn es waren so viele von ihnen krank.«
Am Abend des Tages, an dem die Mutter zum erstenmal aufstand, legte sich Judith hin. Sie hatte hohes Fieber. Ihre Jeans blieben ihr kaum über der Hüfte hängen. Sie wollte nichts mehr essen, nur noch trinken. Aber das Schlucken machte ihr von Tag zu Tag mehr Mühe. Einmal rutschte ihr Kopftuch ab. Ich schrie auf, als ich sie so sah: Sie hatte kein Haar mehr. Aber im selben Augenblick bereute ich meinen Schrei, denn ich merkte, wie sehr ich sie durch mein Entsetzen verletzt hatte.
Ihr Körper verfärbte sich, wurde fleckig, dann starb sie ganz leise, ohne Klage. Sie machte sich einfach davon.
Ihr Tod traf den Vater tief. Er war so stolz auf sie gewesen. Sie hatte immer viel bessere Noten als ich heimgebracht. Die Lehrer hatten ihm zu dieser Tochter gratuliert. Ich aber hatte ihn oft in Verlegenheit gebracht - ich, der Faulpelz und Dummkopf, der sich immer nur mit Mühe von Klasse zu Klasse gehangelt hatte.
Weder Vater noch Mutter noch ich hatten Kraft genug, um eine Grube für Judith auszuheben. Wir mußten sie den Männern übergeben, die mit dem Karren durch die Gassen zogen und »Tote? - Tote?« riefen. Aber bevor sie hereinkamen, knüpfte ihr meine Mutter noch hastig das Kopftuch um. Kein Fremder sollte sie ohne ihr Haar sehen. Dann schleppte sich die Mutter zum Vater ins Schlafzimmer. Nur ich blieb bei Judith, als die Männer sie ziemlich unsanft auf ihre Bahre warfen und hinaustrugen.
»Zieh ihr doch die Turnschuhe aus«, sagte einer zu mir. »Die sind viel zu schade zum Verbrennen. Die gibt's nie wieder. Du wirst sie noch brauchen können.« Ich schüttelte den Kopf.
»Dann nehme ich sie«, sagte ein anderer Mann. »Für meinen Neffen, wenn er noch lebt.« Da riß ich sie Judith von den Füßen und warf sie hinter mich ins Zimmer.
»Na, na«, sagte der Mann, »nur nicht so heftig. In solchen Zeiten kann man sich keine Pietät mehr leisten. Wer nicht praktisch denkt, krepiert.«
Als sie draußen waren, brach mir der Schweiß aus, so schwach fühlte ich mich. Ich schlug die Tür hinter ihnen zu. Ich schaute nicht aus dem Fenster. Ich warf mich aufs Sofa und weinte, bis Jens mich,
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