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Die letzten Kinder von Schewenborn

Die letzten Kinder von Schewenborn

Titel: Die letzten Kinder von Schewenborn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gudrun Pausewang
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einem begegnete, konnte höchste Gefahr bedeuten. Tagsüber lag die Stadt wie tot da, obwohl jetzt in den Trümmern fast doppelt so viele Menschen wohnten wie früher. Aber nachts wurde es in den Gassen lebendig. Da schlichen die Leute mit Eimern zur Schewe, zu den Löschwasserteichen unter der Stadtmauer, zu den Fischteichen hinter dem Schloßpark und schöpften. Dabei wich jeder jedem aus. Nur von weitem wurden Neuigkeiten ausgetauscht - fast immer Todesnachrichten. Es war fast so, als hielte man die Sonne für die Ansteckungsquelle.
    »Unsinn«, sagte mein Vater und schöpfte tagsüber. Aber er holte das Wasser aus dem Freibad. In diesem Wasser hatten zwar vor dem Bombentag schon viele gebadet, und seitdem war es nicht mehr gewechselt worden. Laub und Asche trieben darauf, aber es war gechlort. Dies hielt mein Vater immer noch für den besten Schutz. Das sprach sich herum. Bald drängten sich nachts die Wasserholer vor der aufgebrochenen Tür des Freibads. Jeden Morgen, wenn der Vater und ich mit unseren Eimern hinkamen, war weniger Wasser in den Bassins. Bald war das Kinderbecken leer und im Nichtschwimmerbecken nur noch ein kümmerlicher Rest. Den wollte niemand, denn im knietiefen Wasser trieben zwei Tote. Niemand holte sie heraus. Man tat, als sähe man sie nicht, und schöpfte aus dem Schwimmerbecken. Nicht einmal ihre Angehörigen kümmerten sich um sie. Aber vielleicht hatten sie ja auch keine Angehörigen mehr.
    Meine Mutter und Judith machten weiter, auch als im Schloß der Typhus ausbrach. Aber sie gerieten in Panik, weil sie nicht wußten, wie sie die Kinder sattmachen sollten. Der Vater mußte auf die Felder gehen und Frühkartoffeln stehlen. Die waren noch nicht viel größer als Klicker. Er konnte gar nicht so viele aus der Erde buddeln, wie die Kinder aßen. Als die Mutter begann, die Vorräte der Großeltern mit für die Kinder zu verbrauchen, geriet sie mit dem Vater aneinander.
    »Und was sollen wir essen, wenn der Winter kommt?« fragte er.
    »Soll ich zusehen, wie die Kinder verhungern?« fragte sie hitzig zurück.
    Ich staunte. Noch vor wenigen Wochen hatte sie mich vom Fenster weggezerrt, wenn die Obdachlosen sich vorbeischleppten. Damals hatte sie sie abgewiesen, wenn sie um Essen bettelten. Wie hatte sie sich in so kurzer Zeit verändert! Und auch der Vater war anders geworden: härter und rücksichtsloser. Aber gegen die Mutter kam er immer noch nicht an.
    »Schau doch ins Hospital«, rief er. »Da kannst du die Leute gleich reihenweise verhungern und an ihren Krankheiten krepieren sehen. Willst du die nicht auch noch mitfüttern?«
    »Hier geht's um Kinder«, sagte sie.
    »Du nimmst dir zu viel vor!« schrie er. »Du willst Unmögliches möglich machen. Man muß doch irgendwo einen Strich ziehen können!«
    »Aber nicht rund um unsere Familie. Ich nicht!«
    »Schleppen wir denn nicht schon zwei fremde Kinder mit durch? Mit ihnen zusammen werden wir Glück haben müssen, wenn wir durch den Winter kommen wollen.«
    »Dann überleg dir's doch mal andersrum«, sagte sie. »Stell dir vor, du und ich wären tot, auch Judith und Roland. Nur Kerstin hätte überlebt und hockte nun vor dem Hospital. Keiner kennt sie, keiner erbarmt sich. Na?«
    Da sagte der Vater nichts mehr und ging wieder hinaus in die Felder. Aber bald brauchte er nicht mehr so viele Kartoffeln heranzuschaffen: Die Kinder starben der Mutter unter den Händen weg. Er mußte nun eine Grube im Schloßpark ausheben und die toten Kinder hineinlegen.
    Er setzte durch, daß Kerstin zu Hause blieb. Er wollte, daß auch Judith und ich zu Hause blieben. Er war außer sich vor Angst um uns. Er drohte mir, mich einzusperren, wenn ich nicht freiwillig bliebe. Da wurde ich wild. Ich fühlte mich nicht mehr als Kind und wollte nicht wie ein Kind behandelt werden. Ich hatte auch eine Verantwortung!
    »Wenn ich krank werden soll, dann hab ich die Krankheit längst in mir!« rief ich wütend. »Du erreichst nur, daß ich ganz im Hospital bleibe und mich hier überhaupt nicht mehr sehen lasse!«
    Auch Judith gab nicht nach. Sie sagte ruhig: »Wenn die Mutti weitermacht, mach ich auch weiter. Sie schafft das nicht allein.«
    »Und wenn du dich ansteckst?« rief er. »Du kannst sterben!«
    Darauf fragte sie nur: »Na und?«
    Ich warf einen Blick auf ihr Haar. Es war dünn geworden. Es hatte seinen Glanz verloren. Sie kämmte es nicht mehr. Fiel das den Eltern nicht auf? Wunderten sie sich nicht darüber, daß sie so viel trank? Sahen sie nicht, wie

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