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Die letzten Kinder von Schewenborn

Die letzten Kinder von Schewenborn

Titel: Die letzten Kinder von Schewenborn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gudrun Pausewang
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halbzerstörte Kramersche Wohnung schützte uns notdürftig vor Regen. Es war eine schwierige Arbeit, die sich der Vater vorgenommen hatte. Er mußte Mauerreste abtragen, Balken kappen, den Schutt herabschippen und abkarren, bevor er die Decke mit Dachpappe abdecken konnte.
    Die Mutter vergaß meinen Geburtstag nicht. Aber sie hatte keine Zeit. Sie umarmte mich nur und drückte mir einen Kuß auf die Stirn.
    »Ich wünsche dir, daß du überlebst«, sagte sie. Ich hatte mir vor dem Bombentag ein neues Fahrrad zum Geburtstag gewünscht. An diesen Wunsch erinnerte ich mich nur noch mit Verwunderung. Merkwürdig, was man sich vorher alles hatte wünschen können und auch bekommen hatte. Aber nun ging ich doch nicht ohne Geschenke aus: Judith flocht mir einen kleinen Kranz aus Strohblumen, die sie im Gartenhaus am Fleyenhang gefunden hatte. Die Großmutter hatte immer Strohblumen im Garten gezogen und im Häuschen getrocknet, um im Winter bunte Sträuße für die Zimmervasen zu haben. Früher hätte ich so ein Kränzchen kaum angeschaut und hätte gedacht: Wozu ist das schon nütze? Jetzt aber freute ich mich daüber. Ich besitze den Kranz noch, obwohl er schon ganz zerfleddert ist.
    Auch die Kleinen hatten durch Judith von meinem Geburtstag erfahren. Silke sagte ein Gedicht auf, das sich Judith ausgedacht hatte. Ich kann mich nur noch an die beiden letzten Zeilen erinnern:
    »Bleib trotzdem froh und munter, dann kriegt dich niemand unter!«
    Kerstin hatte ein Mühlebrett zwischen den Trümmern gefunden. Sie hatte, sicher auf Judiths Rat hin, neun dunkle und neun helle Steinchen dazu gesucht. Ich dachte: Wann werde ich je wieder Zeit haben, mich hinzusetzen und so ein Spiel zu spielen? Und ich fand es plötzlich ungemein kindisch. Aber das sagte ich Kerstin natürlich nicht. Sie hatte es lieb gemeint.
    Ich nahm sie in den Arm und drückte sie. Da merkte ich, daß sie längst nicht mehr so pummelig wie früher war. Alles hatte sich verändert. Alle hatten sich verändert. Auch der Vater hatte keinen Bauch mehr und ließ sich den Bart wachsen, wie er wuchs.
    Und Jens? Der schenkte mir etwas, was er selber gefunden hatte. Er hatte es niemandem gezeigt und ein großes Geheimnis daraus gemacht. Er hatte das Geschenk sogar eingepackt; in eine alte Zeitung. Es war ein künstliches Gebiß mit gelblichen Zähnen.
    Ich schwenkte meinen kleinen Pflegebruder herum, dann lief ich wieder ins Hospital, denn dort jammerten die Kranken nach Wasser. Der Michi, den ich mir zur Hilfe geholt hatte, war nach zwei Tagen nicht mehr gekommen. Die Arbeit war ihm wohl zu anstrengend geworden. Nun mußte ich mich wieder allein mit den Eimern abrackern.
    Als ich spät am Abend meines Geburtstags zur Hintertür hineinschlüpfte und mich todmüde auf Großmutters Sofa in dem Zimmer warf, das früher einmal die gute Stube gewesen war, kam Judith zu mir. Es war noch dämmrig: Mittsommerzeit! Jedenfalls konnte ich Judiths Gesicht gut erkennen. Sie setzte sich neben mich auf den Rand des Sofas. In ihrer Hand hielt sie einen Kamm. Der war noch von daheim. Mir fiel in diesem Dämmerlicht wieder auf, wie schön Judith war. Sie hatte Mutters hohe Stirn und Vaters schmale, gerade Nase. Sie hatte helle Augen und lange dunkle Wimpern. Aber das Schönste an ihr war ihr Haar.
    »Was ist?« fragte ich ungeduldig.
    Sie blieb stumm. Sie hob nur die Hand mit dem Kamm und fuhr sich damit durchs Haar. Im Kamm blieb eine kräftige Strähne hängen. Sie zog sie aus den Zinken und legte sie auf die samtbezogene Armlehne des Sofas. Dann kämmte sie sich noch einmal, und wieder ging ein Büschel aus, eine braune, schimmernde Locke.
    Ich wußte, was das bedeutete. Entsetzt schaute ich auf.
    »Weiß das die Mutti?« fragte ich.
    »Niemand außer dir«, antwortete sie. »Behalt's für dich. Es wird früh genug allen sichtbar werden.« Also hatte ich zu Recht Angst gehabt. Trotzdem war ich wie
    vor den Kopf geschlagen. Ich hatte so viele Kranke gesehen, denen die Haare ausgegangen waren. Aber diese hier war meine Schwester. Wie sehr ich sie mochte, wurde mir erst in diesem Augenblick klar.
    »Vielleicht hat's gar nichts damit zu tun«, preßte ich heraus. »Vielleicht kommt's von der Ernährung -«
    Ich sah sie lächeln. Ich sah, daß sie genau Bescheid wußte und sich keine Hoffnung mehr gab.
    »Faß noch einmal hinein«, sagte sie, »damit du später erzählen kannst, wie schön es gewesen ist.«
    Damit hielt sie mir ihr Haar auf ihren offenen Händen hin, und ich strich

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