Die letzten Kinder von Schewenborn
denn es mußte ja auch Essen herangeschafft werden. Jedes Kind mußte mithelfen.
So kam es, daß sich die Mutter fast nur noch im Schloß aufhielt. Auch Judith mit den drei Kleinen war dabei und half ihr: Sie half mit Feuereifer. Sie und die Mutter sprachen von nichts anderem mehr als von »den Kindern«. Sie wollten, daß ich auch zu ihnen kommen sollte. Aber das wollte ich nicht. Im Hospital, in diesem Elend, mochte niemand helfen. Da konnte ich nicht auch noch wegbleiben.
Es waren schreckliche Tage im Hospital. Das Gebäude war voll von Schwerkranken und Sterbenden, und die Plätze der Verstorbenen wurden gleich wieder von neuen Patienten belegt, die aus der Umgebung von Fulda hergebracht worden waren. Die meisten von ihnen litten an der Strahlenkrankheit, deren erstes Zeichen ein unstillbarer Durst war. Den kannte ich. Er machte manche Patienten halb wahnsinnig. Danach folgten Übelkeit, Durchfall und hohes Fieber. Das Haar fiel in Büscheln aus, die Zähne lockerten sich, die Kranken erbrachen Blut. Am ganzen Körper zeigten sich dunkle Flecken: Hautblutungen. Schluckbeschwerden stellten sich ein, das Herz wollte nicht mehr regelmäßig arbeiten, alle Schleimhäute bluteten. Schließlich redeten die Kranken nur noch wirres Zeug, verloren das Bewußtsein und starben. Bei manchen ging es schnell, andere quälten sich lange. Aber bei fast allen konnte man den Tod voraussehen. Und je näher sie der Bombe im Augenblick der Explosion gewesen waren, um so heftiger war bei ihnen die Krankheit ausgebrochen.
Unter diesen Kranken waren nur solche Schewenborner, die an jenem Vormittag auf dem Weg von oder nach Fulda gewesen waren oder sich kurz danach im nahen Umkreis von Fulda aufgehalten hatten. Ich hörte die Krankenschwestern und Ärzte darüber sprechen. Da bekam ich Angst um meine Mutter. Und als ich erfuhr, daß ein Urlauber-Ehepaar aus Hamburg, zu Gast in Schewenborn, ebenfalls an der Strahlenkrankheit litt, weil es während einer Wanderung von der Kuppe des Kaltenbergs aus in den Feuerball über Fulda geschaut hatte, bekam ich noch mehr Angst um sie. Aber nicht nur um sie - auch Judith mußte Strahlen abbekommen haben. Sie hatte hinter der Mutter am Fenster gesessen, auf der Wagenseite, die der Explosion zugewandt gewesen war. Sie hatte mich gedeckt, denn mein Platz war auf der linken Seite hinter dem Vater gewesen. Aber auch ich hatte einen winzigen Augenblick lang in das grelle Licht geschaut. War also auch ich -?
Merkwürdigerweise belastete mich diese Ungewißheit kaum. Ich hatte auch nicht viel Zeit, über mich selber nachzudenken. Aber immer wieder staunte ich darüber, was für ein Glück die Schewenborner gehabt hatten: Aus ihrem Tal hatten sie den Feuerball nicht sehen können. Und ein starker Westwind hatte die radioaktive Wolke mit der Asche von Fulda nach Osten abgetrieben. Sie hatten also vielleicht gute Chancen zu überleben. Aber die Mutter? Und Judith? Ich versuchte, sie mir zwischen den Kranken im Hospital vorzustellen. Mir schauderte. Und als mir einmal, mitten in der Nacht, klar wurde, daß sicher auch Schewenborn im Osten irgendeiner zerbombten Stadt liegt und mit dem Westwind deren radioaktive Niederschläge ahnungslos abbekommen haben könnte, wurde mir kalt vor Schreck. Hatte sich nicht der Wind plötzlich gedreht, als unser Dachstuhl anfing zu brennen? Vielleicht hatte er sich gedreht, bevor uns die Wolke aus Gießen oder Koblenz oder sonstwoher erreicht hatte? Aber konnte nicht auch der Nordwind Unheil gebracht haben?
Ich hatte Angst, als die Mutter an Durchfall litt, noch mehr Angst, als Judith Fieber bekam. Aber jeder bekam damals ab und zu Durchfall, und Judith hatte auch schon vorher oft gefiebert. Schon von klein auf hatte sie bei Aufregungen leichtes Fieber bekommen. Und ihr auffälliger Durst? War er etwa das Zeichen? Aber die Tage waren so heiß, und sie war von morgens bis abends auf den Beinen. Konnte es da verwundern, daß sie so viel trank?
In einer Katastrophenzeit werden die Tage doppelt so lang. Jeder Tag ist eine Ewigkeit. Mir kam es vor, als sei die Bombe schon vor Jahren gefallen. Dabei war es erst drei Wochen her. Ich wurde in diesen Tagen dreizehn Jahre alt.
Mein Vater vergaß meinen Geburtstag. Er war so mit dem Dach beschäftigt. Er zog von Trümmerstelle zu Trümmerstelle und suchte Dachpappe und Nägel zusammen. Bevor der Herbst-regen kam, wollte er das Dach dicht haben. Die Schönwetter-zeit würde nicht ewig dauern. Nur die Decke des Erdgeschosses und die
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