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Die letzten Kinder von Schewenborn

Die letzten Kinder von Schewenborn

Titel: Die letzten Kinder von Schewenborn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gudrun Pausewang
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blaß und elend sie aussah? Aber die Eltern sahen ja selber blaß und elend aus. Es war, als ob jeder von uns den Atem anhielte und nichts ahnen, nichts erkennen, nichts wissen wollte.
    Als die Toten so Überhand nahmen, daß die ganze Stadt stank, taten sich ein paar Männer zusammen, die den Typhus überstanden hatten, karrten sie in jedem Viertel auf einen Haufen, übergossen sie mit Benzin und zündeten sie an. Noch besaß dieser und jener Benzin, noch gab es Feuerzeuge und Streichhölzer in den meisten Häusern.
    Auch im Hospital erschienen die Männer. Einen von ihnen kannte ich: den jungen Dreesen. Der war Fotograf gewesen und besaß den schönsten Sportwagen in der ganzen Stadt. Die Mädchen hatten ihn angehimmelt. Nun half er, auf den Wiesen hinter dem Hospital einen Leichenhaufen aufzuschichten. Vom Hospital aus konnte man den Haufen nicht sehen. Aber der Gestank von verbranntem Fleisch lag noch wochenlang über der Stadt.
    Nun waren wir allein mit den letzten Kranken, die alte Lisa und ich. Es gab nicht mehr viele Lebende im Hospital zu betreuen. Wer nicht an seinen Verbrennungen oder an der Strahlenkrankheit oder am Typhus gestorben war, der war verhungert. Wer hier noch lag, hatte keine Angehörigen mehr, der war ganz und gar verlassen. Wenn ich einen dieser dreckigen und stinkenden Sterbesäle betrat, schauten mich die Kranken, die noch bei Bewußtsein waren, hoffnungsvoll an. Aber ich brachte ihnen keine Hoffnung. Wer rief, bekam Antwort, wer nicht mehr rufen konnte, bekam nicht einmal mehr einen Blick. Ich war ja selber am Ende. Das einzige, was ich ihnen noch bringen konnte, war Wasser gegen ihren entsetzlichen Durst.
    Die meisten von ihnen waren nur noch von Haut überzogene Gerippe, wenn sie starben. Manche klammerten sich an meine Arme, an mein schmutziges und durchschwitztes Hemd. Sie wollten mich nicht loslassen, in panischer Angst vor dem Tod. Manche zerrten mit letzten Kräften an meinem Wassereimer oder bissen in den Plastikbecher und wollten ihn nicht wieder hergeben. Ich mußte mich mit Püffen gegen die Sterbenden wehren, mußte ihre Krallenfinger von meinem Hemd lösen. Und ich war doch selber so erschöpft! Hin und wieder packte mich die Angst, wenn sie noch stark waren. Mir schien es, als wollten sie mir ans Leben, obwohl ich doch der einzige war, den sie noch hatten - außer der alten Lisa, die mich immer wieder ablöste, damit ich ein paar Stunden schlafen konnte. Es war, als ob sie glaubten, mit meinem Leben weiterleben zu können!
    Ich hielt eine genaue Reihenfolge ein, um gerecht zu bleiben: Stockwerk um Stockwerk, Zimmer um Zimmer. Wenn ich mich bei der nächsten Runde über besonders wilde Sterbende beugte, waren sie oft schon tot und starrten mit glasigen Augen an die Decke.
    An einem heißen Nachmittag brach ich im Keller des Hospitals mit hohem Fieber zusammen. Lisa fand mich und holte meinen Vater. Der kam und schleppte mich heim. In den nächsten Tagen wurde fast meine ganze Familie krank. Nur Judith blieb verschont. Ich lag über zwei Wochen zwischen Leben und Tod auf Großmutters Sofa. Das Fieber kletterte immer wieder so hoch, daß ich das Bewußtsein verlor, kurz danach sank es auf normale Temperatur ab.
    Nur in diesen fieberfreien Perioden konnte ich wahrnehmen, was um mich herum vorging. Ich sah weder Vater noch Mutter noch die Kleinen. Nur Judith umsorgte mich. Wenn sie sich über mich beugte, lächelte sie mich traurig an. Sie war noch schmaler geworden. Ihre Augen lagen tief in den Höhlen. Sie hielt mir den Becher genau so an die Lippen, wie ich ihn den Kranken im Hospital an die Lippen gehalten hatte. Zeitweilig war ich so schwach, daß ich nicht mehr sprechen konnte. Einmal fühlte ich, wie das Fieber stieg, mir wurde schwarz vor Augen. Da packte ich sie am Ärmel und klammerte mich an ihre Hand. Ein anderes Mal wollte ich sie fragen, warum sie ein Kopftuch trug, aber dann wußte ich nicht mehr, was ich sie fragen wollte. Sie wusch mich, sie bettete mich um, sie kochte mir Tee. Ich hörte sie Wasser holen und Holz hacken. Im Herd nebenan in der Küche knisterte das Feuer.
    Einmal fragte ich sie, warum es so still im Haus sei.
    »Sie schlafen alle«, antwortete sie. »Schlaf du nur auch.«
    Da schlief ich gehorsam ein, überanstrengt von den paar Worten. Später erzählte sie mir, daß ich einen Tag lang wie tot dagelegen hatte.
    Als es mir wieder etwas besser ging, erfuhr ich, daß Kerstin gestorben war, mein quicklebendiges, quengeliges Schwesterchen mit den

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