Die letzten Kinder von Schewenborn
vorausgegangen war, flüsterte er mir zu: »Natürlich ist das nicht der Herbst - das weiß ich so gut wie du. Aber halte vor der Mutti den Mund über diese Dinge. Sonst wird sie noch mutloser.«
»Also ist die Fuldaer Wolke doch über uns weggezogen?« fragte ich erschrocken.
»Nicht die von Fulda«, meinte der Vater. »Nach so vielen Atomexplosionen wird die ganze Atmosphäre über unserem Land radioaktiv verseucht sein. Es wäre lächerlich anzunehmen, daß sie ausgerechnet über Schewenborn noch rein wäre.«
»Aber dann sind doch auch alle Pflanzen verseucht«, flüsterte ich entsetzt, »und wir dürften nichts von all dem, was hier wächst, berühren?«
»Dann verhungern wir«, antwortete mein Vater. »Es ist schließlich gleichgültig, welchen Tod wir sterben. So lange wir Hunger haben, werden wir nach Eßbarem greifen, auch wenn es verseucht sein sollte.«
An diesem Tag aß ich nichts mehr, auch nicht am nächsten. Aber am übernächsten hatte ich solchen Hunger, daß ich mich nicht mehr beherrschen konnte und doch über die Kartoffeln herfiel, die der Vater ein paar Tage vorher von den Feldern geholt hatte.
Die Bauernfamilien, die ihre Felder noch abernten konnten, hatten Schwierigkeiten: Die Mähdrescher waren nicht mehr zu gebrauchen. Sie mußten wieder mit der Sense mähen. Viele junge Leute hatten nie mähen gelernt. Jetzt war Rat und Können der Alten plötzlich wieder gefragt. Aber es waren fast keine Sensen mehr aufzutreiben. Manche Bauern rauften das Getreide mit den Hände aus, andere schnitten es mit Sicheln oder Messern ab. Aber das ging langsam. Mehr Helfer mußten her. Die gab es genug, nur wollte niemand mit Geld bezahlt werden. Wozu war Geld nütze, wenn man nichts mehr damit kaufen konnte? Die Leute wollten nur gegen Korn helfen.
Aber es lohnte sich kaum, die Ähren auszudreschen. Was die Bauern ernteten, war fast nur Stroh. Die Körner lagen zwischen den Stoppeln auf dem Boden, und viele hatten schon Wurzeln geschlagen. Auf den Knien rutschten wir über die Stoppelfelder und sammelten sie auf. Wir waren nicht die einzigen. Es wimmelte auf den Feldern von Körnersuchern. Manche glaubten, sie fänden in den Ähren doch noch mehr Körner als auf der Erde. So breiteten sie an den Feldrändern Tücher aus, häuften Ähren darauf und droschen sie mit Stöcken und Steinen aus. »Wie in der Steinzeit«, sagte mein Vater. »Und nächstes Jahr?« fragte ich. »Diese Felder sind alle noch vor dem Bombentag angebaut worden.«
»Das nächste Jahr liegt noch so weit weg«, meinte er. »Laß uns darüber jetzt nicht den Kopf zerbrechen.«
Und die Maisfelder? Die brauchte kein Bauer mehr zu ernten, wenigstens nicht die Kolben. Die waren längst von all den hungrigen Schewenbornern, die keine Vorräte mehr besaßen, geerntet worden.
Es war ein obstreiches Jahr. In Großvaters Garten bogen sich die Bäume unter ihrer Last, aber die Früchte waren klein geblieben und merkwürdig verrunzelt. Wir pflückten die Äpfel und Birnen von den kahlen Zweigen, wir schüttelten die Pflaumen. Aber wir konnten das Obst nicht einkochen. Uns fehlte der Zucker. Wir versuchten, die Pflaumen zu trocknen, aber wir hatten kein Glück damit. Sie begannen zu schimmeln. Wie fehlte uns jetzt die Großmutter mit ihren Erfahrungen aus der Kriegs- und Nachkriegszeit!
Wir schnippelten die Äpfel und Birnen in dünne Scheiben, die wir auf Brettern und Backblechen in der Sonne trockneten. Wir suchten Pilze und trockneten sie. Aber die Haselnüsse und Walnüsse aus Großvaters Garten wurden noch grün von den Bäumen und Sträuchern gestohlen. Auch die Kürbisse, Riesendinger, waren verschwunden, noch bevor sie richtig reif geworden waren.
Meine Mutter hatte von all der Arbeit rauhe, rissige Hände bekommen. Sie pflegte sie nicht mehr. Früher hatte sie bei der Gartenarbeit immer Gummihandschuhe getragen. Sie saß morgens auch nicht mehr vor dem Frisierspiegel zwischen Tuben und Puderdosen. Braungebrannt, mit vielen kleinen Fältchen im Gesicht, lief sie herum, ließ ihr Haar wachsen, wie es wuchs, roch nach Schweiß und hatte oft Erde an den Schuhen kleben. Aber so hatte ich sie nicht weniger lieb als früher. Im Gegenteil.
Es kamen Tage, da hatte meine Mutter verweinte Augen. Auch der Vater war bedrückt.
»Die Mutti ist schwanger«, sagte er.
Ich starrte ihn erschrocken an. Er zog die Schultern hoch und sah sehr unglücklich aus.
»Vielleicht irrt ihr euch«, sagte ich und dachte an das, was wir in der Sexualkunde
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