Die letzten Kinder von Schewenborn
bekümmert über meine Traurigkeit, am Nacken kraulte und mich daran erinnerte, daß er hungrig war.
7
Vater und Mutter erholten sich schneller als ich - wenigstens körperlich, obwohl sich meine Mutter vor dem Gesundwerden scheute. Sie kam über Kerstins und Judiths Tod nicht weg. Sie fiel wieder zurück in ihre Schweigsamkeit der ersten Zeit nach dem Bombentag, fragte nach nichts und wollte nichts wissen. Sie ging nicht nach draußen und schaute nicht einmal ins Schloß hinüber. Nur um Jens und mich und Vater kümmerte sie sich.
Es beruhigte mich, als ich merkte, wie sehr sie nun an Jens hing - und er an ihr.
»Ein ideales Kind für solche Zeiten«, sagte mein Vater einmal.
Das war er wirklich: ein Stehaufmännchen. Ihn kriegte nichts unter. Kerstin und Silke vermißte er nur kurze Zeit.
Dann war er wieder obenauf. Immer strahlte er, mit allem war er zufrieden. Wenn wir uns mit ihm abgaben, vergaßen wir für eine Weile all das Schreckliche, das hinter uns und vor uns lag. Für ihn war dieses Leben längst ganz normal. Er nahm es, wie es kam. Nur nachts rief er manchmal kläglich nach Silke oder seiner Mutter.
Ich brauchte am längsten, bis ich es wagen konnte, das Haus zu verlassen, ohne umzukippen. Der Vater sagte, ich sähe aus wie ein Gespenst. Erst gegen Anfang September schaffte ich es, ins Hospital hinüberzutaumeln.
Es war leer. Die Räume hallten. Auf dem Fußboden klebten noch Blut, Kot und Erbrochenes. Aber die Toten hatte man hinausgeschafft. Ich suchte nach der alten Lisa. Ich hatte fest damit gerechnet, sie hier wiederzusehen. Darauf hatte ich mich gefreut. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß sie gestorben war. Später fragte ich Schewenborner nach ihr. Aber nach der Typhuszeit war sie niemandem mehr begegnet.
In einem Saal im Keller fand ich einen kleinen schmutzigen Teddybär. Den nahm ich mit für Jens. Ich hatte Mühe, wieder heimzukommen. Schweißüberströmt fiel ich auf Großmutters Sofa.
Den nächsten Ausflug machte ich in die Stadt. Die war sehr still geworden, obwohl die Schewenborner, die sich in die Wälder gefluchtet hatten, längst wieder heimgekommen waren, sofern sie die Seuche überlebt hatten. Der Vater hatte mir erzählt, daß es kaum eine Familie gab, in der nicht jemand gestorben war. Auch eine andere Seuche war umgegangen, eine Art Ruhr, die fast ebenso viele Opfer gefordert hatte.
»Drei- bis viertausend Tote, Einheimische und Fremde, sollen bis jetzt in Schewenborn begraben worden sein«, sagte mein Vater. »Dazu kommen die Schewenborner, die in Fulda umgekommen sind.«
Die Stadt hatte vor dem Bombentag etwa fünftausend Einwohner gehabt. Fast ebenso viele Obdachlose aus der Fuldaer Umgebung waren hier untergekommen.
»Nicht schlecht«, sagte der alte Malek, der seine Frau an Typhus verloren hatte. »Da bleibt uns Überlebenden mehr zu fressen.«
Ich starrte ihn so entsetzt an, daß er ganz verwundert fragte: »Na und? Stimmt's vielleicht nicht?«
So wie er dachten viele. Alle Gedanken begannen, sich nur noch um das Essen zu drehen. Auch bei uns. Der Herbst war nah. Die Tage wurden kürzer und kühler. Man fürchtete sich vor dem Winter.
Während der ersten Woche nach dem Bombentag und während der Seuche hatten nur wenige Bauern ihr Getreide geerntet. Auf vielen Feldern stand der Weizen überreif und hatte längst seine Körner verloren, oder er lag, zusammengeschlagen von Böen und Gewitterregen, in wirren Wirbeln aufeinander. In Scharen wanderten die Schewenborner hinaus, um Körner zu sammeln. Auch wir machten uns mit Plastikbeuteln und Großmutters uralten Leinensäckchen auf den Weg.
Es war das erste Mal nach meiner Krankheit, daß ich wieder auf die Felder kam. Ich wunderte mich: Es war doch erst September, und trotzdem war die ganze Landschaft welk und gelb, und das Laub löste sich von den Bäumen. Ganze Alleen standen schon kahl.
»Was ist das, Vati?« fragte ich beklommen. »Trockenheit«, antwortete er kurz. »In diesem Sommer hat es ja kaum geregnet. Da kommt der Herbst früher.«
»Aber sieh doch die Rübenblätter an«, sagte ich. »Die dürften auch nach einem trockenen Sommer in dieser Zeit nicht so schlapp sein. Und die Erlen an der Schewe sind schon kahl, obwohl sie die Wurzeln im Wasser haben und ihr Laub erst im November abwerfen. Verstehst du das?«
»Du tust, als seist du ein Landwirtschafts- und Forstexperte«, sagte der Vater unwillig, faßte mich am Arm und zwang mich stehenzubleiben. Als die Mutter mit Jens ein paar Schritte
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