Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die letzten Kinder von Schewenborn

Die letzten Kinder von Schewenborn

Titel: Die letzten Kinder von Schewenborn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gudrun Pausewang
Vom Netzwerk:
darüber gelernt hatten. »Vielleicht ist es nur von der Aufregung weggeblieben -«
    »Das hatten wir auch gehofft«, sagte der Vater. Er sprach zu mir wie zu einem Erwachsenen. »Aber jetzt ist ziemlich klar, daß es eine Schwangerschaft ist: aus der Nacht nach der Geburtstagsparty bei Kellermanns, zwei Tage vor der Bombe.«
    »O mein Gott«, schluchzte die Mutter.
    Als ich wieder kräftig genug dazu war, machte ich lange Streifzüge durch die Umgebung. Ich sah, daß von den Dörfern im Umkreis von Schewenborn die Ortschaften Wietig und Murn am wenigsten gelitten hatten. Wietig war von Fulda am weitesten entfernt, und Murn lag in einer tiefen Talfalte. Aber von den Dörfern im Fuldatal stand fast nichts mehr. Die Höfe waren eingestürzt oder abgebrannt, die Scheunen und Schuppen wie weggeblasen. Es roch immer noch nach Asche. Man sah kaum Menschen. Die Überlebenden, die nicht fortgezogen waren, hatten sich in den Trümmern eingenistet. Auf den verdorrten Wiesen lagen Kuhkadaver. Von manchen waren nur noch die Skelette übrig. Aber nirgends sah man Krähen hocken.
    An den Waldhängen hatte die Druckwelle die Fichten wie Streichhölzer umgeknickt. An vielen Stellen waren Bäume über die Straße gefallen, und noch hatte niemand sie weggeräumt. Ganze Wälder waren niedergemäht, je weiter fuldaaufwärts ich kam. In einem Teich sah ich tote Fische mit dem Bauch nach oben treiben. Sie mußten lange nach dem Bombentag umgekommen sein. Und überall, vor allem unter Bäumen, trat ich auf winzige Vogelskelette.
    Bei einem kleinen Dorf führte die Straße über die Fulda. Vom Dorf selbst stand fast nichts mehr. Aber die Brücke war noch ganz. Ein Mast der Stromleitung war über sie gefallen, die Drähte hingen zerrissen herab. Ich blieb eine Weile auf der Brücke stehen und schaute ins Wasser hinunter. Es war grau und trüb. Seitlich in den fahlgelben Weidenbüschen hingen ein paar Leichen ineinander verhakt - kleine schwarze Skelette mit geschrumpftem Fleisch: Verbrannte. Das Unkraut am Ufer durchwucherte sie schon.
    Ich wagte mich noch ein Stück weiter in der Richtung nach Fulda vor. Die Landschaft wurde grau, dann schwarz. Das Tal war wie leergefegt. Nur ein paar Baumstümpfe ragten noch auf, ein paar flachgedrückte Autowracks neben der Straße erinnerten daran, daß hier einmal Menschen gelebt hatten. Die Wiesen waren versengt, die Felder verdorrt, die Wälder verbrannt, zerstört, entlaubt wie im Winter. Nur über den Fulda-ufern lag ein grüner Schimmer.
    Als ich dorthin kam, von wo aus ich Fulda hätte liegen sehen müssen, kehrte ich um. Von diesem Ausflug brachte ich nichts mit heim. Nicht einmal Pilze wuchsen mehr im Fuldatal.
    »Und trotzdem«, sagte mein Vater, als ich ihm erzählte, was ich gesehen hatte, »es kann nur eine kleine Bombe gewesen sein. Fulda war keine Großstadt. Wer auch immer die Bombe geworfen hat - er war sparsam. Schon ein kleines Kaliber genügte, um Fulda auszuradieren.«
    Einmal wanderten wir zusammen, der Vater und ich, nach Osten zu, um für die Mutter etwas Speck oder Fett aufzutreiben. Wir kamen bis an die Zonengrenze. Die Wachtürme waren leer, auf den durchgepflügten Streifen keimte Unkraut. Wir konnten in ein Tal hinuntersehen. Dort war der Grenzzaun umgestürzt, waren die Pfeiler zerbrochen. Es sah aus, als sei da einer mit dem Bagger durchgefahren. An mehreren Stellen, auch in unserer Nähe, war der Maschendraht aufgeschnitten. Trampelpfade führten durch die Öffnungen.
    Auf dem Pfad, der uns am nächsten lag, kam ein stoppelbärtiger Mann von drüben zu uns herüber. Er hatte einen Rucksack auf dem Rücken und ein Kind auf dem Arm. Ein zweites Kind schob er vorsichtig vor sich her. Wir beobachteten ihn mit angehaltenem Atem. Aber kein Schuß fiel, kein Hund bellte, kein Alarm schrillte. Als er bei uns ankam, grüßte er freundlich.
    »Da hatten Sie aber Glück«, sagte mein Vater.
    »Wieso?« fragte der Mann. »Hier schießt niemand mehr. Nicht mehr seit dem Bombentag. Man muß nur aufpassen, daß man nicht vom Trampelpfad abkommt. Da ist noch alles vermint.«
    »Jetzt kann also rüberflüchten, wer will?« fragte mein Vater ungläubig.
    »Flüchten?« fragte der Mann. »Warum? Niemand flüchtet jetzt. Im Gegenteil. Immer mehr von euch kommen zu uns rüber. Hier im Thüringischen sind wir noch einigermaßen glimpflich davongekommen. Eisenach, Gotha, Erfurt sind natürlich weg, und Meiningen und Suhl hat die Wolke von Fulda erledigt. Aber hier herum läßt sich's noch leben

Weitere Kostenlose Bücher