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Die letzten Kinder von Schewenborn

Die letzten Kinder von Schewenborn

Titel: Die letzten Kinder von Schewenborn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gudrun Pausewang
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für die, die den Typhus und die Ruhr überstanden haben.«
    »Aber Sie«, sagte der Vater, »flüchten doch auch, wie ich sehe.«
    »Ich?« fragte der Mann überrascht. »Sie meinen wegen des Rucksacks? Aber nein. Da wär ich schön dumm, wo doch bei euch alles noch viel kaputter sein soll als bei uns. Ich will Verwandte besuchen, gleich dort drüben im Dorf. Den Bruder meiner Mutter. Jahrelang haben sie uns Pakete geschickt. Jetzt bringe ich ihnen ab und zu eine Speckseite rüber. Denen sind alle Schweine kurz nach dem Bombentag krepiert. Auch so eine Seuche. Unser Dorf und ein paar Nachbardörfer hat sie ausgelassen. Dafür hat's bei uns die Kühe erwischt. Innerhalb einer Woche alle zweiundzwanzig Milchkühe hin!«
    »Und das hier«, fragte mein Vater ganz verwirrt, »ist also keine Grenze mehr?«
    »Nicht daß ich wüßte. Jedenfalls merkt man nichts davon. Wozu denn auch noch Grenzen, so kaputt, wie alles ist? Um Berlin herum soll kein Stein mehr auf dem anderen stehen, und Leipzig und Dresden sollen wie weggeblasen sein. Je weiter nach Osten, um so fleißiger ist man gestorben, und man stirbt dort immer noch. Nicht nur an den Seuchen. Die Strahlen sind's, diese verdammten Strahlen. Vor denen ist keiner sicher.«
    »Wir gehören jetzt also wieder zusammen?« fragte mein Vater.
    »Sieht so aus«, sagte der Mann. »Aber was weiß man denn heute? Man hört nur Gerüchte. Keine Zeitung, kein Fernsehen, keine Stimme der Regierung. Wahrscheinlich gibt's gar keine Regierung mehr. Wer würde sich denn auch zutrauen, in diesen Scherbenhaufen, diesen Totentanz Ordnung zu bringen? Nicht einmal Bürgermeister will einer werden. Bei uns gehen sie mit diesen Ämtern hausieren. Bürgermeister. Lächerlich. Jetzt gibt's nur ein Motto für jeden: Überleb, wie du kannst, und wenn's auf Kosten anderer geht.«
    »Ja«, sagte mein Vater, »man vergißt seine ganze gute Erziehung und die ›Liebe-deinen-Nächsten‹-Moral. Man wird zu einem Tier. Man beißt um sich, wenn's ums Futter geht. Und es geht fast immer ums Futter! Dabei überleben nur die Stärksten.«
    »So ist es«, sagte der Mann, nahm seinen Rucksack ab, langte hinein und reichte mir eine Speckseite.
    »Da«, sagte er. »Du wirst Fett brauchen können. Du siehst ja aus wie's Leiden Christi persönlich. Übrigens kommt man hier an der Grenze noch am besten vorwärts, auf unserer Seite entlang: Da ist noch die Straße, auf der sie immer Streife fuhren. Die beste Verbindung heutzutage zwischen Nord- und Süddeutschland. Keine Ortschaften, kaum kaputt. Wer noch Benzin im Tank hätte, käme da schnell voran. Aber im Ernst: Radfahrer seh ich oft vorüberstrampeln. Also, auf ein gutes Überleben!«
    Damit nahm er das kleinere Kind, ein noch pausbäckiges Mädchen, wieder auf den Arm und wanderte weiter. Er ließ uns kaum Zeit, uns zu bedanken.
    »Warum gehen wir nicht rüber, wenn's drüben noch Speck gibt?« fragte ich.
    »Wer weiß«, sagte der Vater, »es ist alles so unsicher. Vielleicht gibt es doch noch jemanden, der sich verpflichtet fühlt, die Grenze zu bewachen. Das kann doch nicht so plötzlich anders sein. Was würde mit der Mutti, wenn sie mich festhielten?«
    Ich bot mich an, allein hinüberzugehen. Aber das wollte er auch nicht: »Man kann nicht wissen. Es sind ja alles nur Gerüchte.«
    Nachdenklich wanderten wir ein Stück am Zaun weiter, dann kehrten wir um. Unterwegs fragten wir noch in ein paar Höfen nach Fett und anderem, bekamen aber nichts.
    »Heute waren schon mehr als ein Dutzend Schnorrer da«, sagte eine Bäuerin. »Wir haben auch kein Tischlein-deck-dich.«
    Und ein alter Bauer knurrte: »Eineinhalb Männer? Nein. Wenn ich schon was gebe, dann nur Frauen mit kleinen Kindern oder Schwangeren. Ihr könnt euch selber helfen.«
    »Meine Frau ist schwanger«, sagte mein Vater. »Und wir haben ein kleines Kind zu Hause.«
    »Das kann jeder sagen«, schnauzte ihn der Bauer an.
    Wir versuchten, uns selber zu helfen: Als wir den Hof wieder verlassen hatten, trieben wir hinter der Scheunenwand ein Huhn in die Enge. Der Vater bekam es auch zu fassen, brachte es aber nicht fertig, ihm sofort den Hals umzudrehen. Es schlug mit den Flügeln und gackerte aufgeregt. Das hatte der Bauer wohl gehört. Er ließ den Hund los. Der kam mit wütendem Gebell herausgefegt und sprang uns an die Beine. Der Vater mußte das Huhn fahren lassen. Mit einem Pfahl, den er sich aus einem Holzhaufen griff, schlug er dem Köter über den Rücken, daß er sich jaulend verzog. Mir

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