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Die letzten Kinder von Schewenborn

Die letzten Kinder von Schewenborn

Titel: Die letzten Kinder von Schewenborn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gudrun Pausewang
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tat der Hund leid. Aber noch mehr tat mir's leid, daß uns das Huhn entgangen war.
    »Eigentlich«, sagte der Vater, als wir weitergingen, »hatte der Bauer recht.«
    Den ganzen Heimweg über blieb er schweigsam, in Gedanken versunken. In der Abenddämmerung buddelten wir auf einem einsamen Acker noch ein paar Kartoffeln aus und füllten damit unsere Rucksäcke. Hätten wir nicht die Speckseite bekommen, wäre es ein verlorener Tag für uns gewesen. Ich nahm mir vor, das nächste Mal wieder allein schnorren zu gehen. Ich war ja noch ein Kind, mich schickten die Bauern selten weg, ohne mir was zu geben. Und wenn's nur eine Runkelrübe war.
    Wir kamen erst nach Mitternacht heim. Die Mutter hatte schon Angst um uns gehabt. Sie war sehr niedergeschlagen.
    An diesem Nachmittag hatte jemand, während sie in Großvaters Werkstatt mit Jens Apfelschnitze aufgefädelt hatte, heimlich unseren Keller halb ausgeräumt. Von den Kartoffeln, die wir während der letzten Wochen von den Feldern heimgeholt hatten, fehlte mehr als die Hälfte. Der Dieb hatte sie in aller Ruhe eingesackt und einem Komplizen durch das Kellerfenster hinausgereicht. Er mußte aus der Nachbarschaft stammen. Er mußte gesehen haben, daß der Vater und ich in aller Frühe das Haus verlassen hatten. Auch Möhren und Kohlköpfe fehlten. »Wir brauchen einen Hund«, sagte der Vater wutschnaubend.
    »Womit willst du ihn füttern?« fragte die Mutter.
    Von nun an ließen wir die Mutter nicht mehr allein zu Hause. Ging der Vater fort, blieb ich bei ihr. Ging ich auf Beute aus, blieb der Vater daheim. Auf diese Weise dauerte es lange, bis wir den Verlust wieder hereinhatten. Dazu wurde es immer gefährlicher, von den Feldern zu stehlen, je näher der Winter kam. Einmal kehrte der Vater stöhnend heim. Sein Hemd war zerrissen, seine Nase blutete: Ein Bauer hatte ihn beim Rübenklauen erwischt und brutal zusammengeschlagen.
    Auch als es nichts mehr auf den Feldern zu holen gab, zogen wir weiter Tag für Tag los, einmal der Vater, einmal ich, und holten Holz. Wir fuhren mit Großvaters altem Fahrrad. Als die Reifen nicht mehr zu flicken waren, fuhren wir auf den Felgen weiter. Das Holz luden wir auf einen uralten, zweirädrigen Anhänger aus Großvaters Schuppen. Jeden Tag beluden wir ihn höher. Die Ladung zurrten wir mit Seilen fest. Wir wetteiferten miteinander, wessen Ladung höher war. Wer daheimblieb, zerkleinerte das Holz zu Stücken, die in den Herd paßten.
    Um Holz brauchten wir uns noch nicht zu schlagen. Die Schornbergwälder lagen voller dürrer Äste und umgestürzter Stämme. Und auch verkohltes Holz gab Hitze. Aber die Äxte und Sägen waren knapp. Jemand stahl unsere beste Säge, während ich nur für einen Augenblick in die Küche gegangen war, um zu essen. Der Vater raste vor Wut.
    »Wenn ich den erwische, erschlage ich ihn!« brüllte er.
    Das glaubte ich ihm.
    Wir hielten uns jetzt tagsüber nur noch in der Küche auf, wo der Herd stand. Die Küche war der einzige warme Raum im Haus. Nachts schliefen wir in den ungeheizten Zimmern.
    Wenn wir alle vier zu Hause waren, wurde es sehr eng in der Küche. Sie war nur etwa zwölf Quadratmeter groß. Und Jens ließ sich nicht anbinden. Er brauchte Platz zum Spielen. Er quengelte jetzt oft. Da wurde der Vater ungeduldig.
    »Er kann nichts dafür«, sagte die Mutter.
    »Ja, ja, ich weiß«, seufzte der Vater ergeben.
    In der Küche trockneten wir unsere halbkaputten Schuhe, wusch die Mutter die Wäsche mit der Hand, spannte eine Leine von Wand zu Wand und trocknete sie. Die Küche roch nach Essensdunst und Asche, nach Waschlauge und Schweiß. Aber daran störten wir uns längst nicht mehr. Die Küche war unser Zuhause.

8
    Noch im September zeigten sich die ersten Fälle von Strahlenkrankheit unter den Schewenbornern. Sie liefen anders ab als bei den Leuten aus der Fuldaer Gegend, die ich in den Wochen nach dem Bombentag im Hospital beobachtet hatte. Damals waren die meisten Kranken schnell gestorben. Die Schewenborner siechten dahin. Nur bei ein paar Kindern ging es schneller. Sie starben an Leukämie.
    »Jetzt geht es los«, sagte der Vater, als er mit mir allein war. »Der schleichende Tod. Früher oder später sind wir alle dran. Es kommt nur auf die Reihenfolge an. Und es geht hübsch langsam, damit niemand in Panik gerät.«
    Er hatte recht. Es wurde kein Massensterben daraus. Es wurde langsam und einsam gestorben, mal einer hier an Blutkrebs, mal einer dort an unaufhörlichem Darmbluten und

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