Die letzten Monate der DDR: die Regierung de Maizière und ihr Weg zur deutschen Einheit
allen Absprachen wird Böhme in einer Hauruckaktion auf dem ersten ordentlichen Parteitag im Februar in Leipzig als Kandidat installiert.
Schröder weiter: »Dieser aus Westdeutschland stammende Sozialdemokrat hat den Ibrahim Böhme vor uns größtenteils sogar richtiggehend abgeschirmt. Außerdem gab es da noch eine Kuriosität: Weil der Ibrahim Böhme in seinem Büro ein völliges Chaos entstehen ließ, weil er keine Post bearbeitete, wurde ihm als Sekretärin eine Mitarbeiterin der SPD-Fraktion im Bundestag geschickt, die dann später als Inoffizielle Mitarbeiterin der Stasi nicht nur enttarnt, sondern auch bestraft worden ist. Für Westdeutsche ist das ja Landesverrat, wohingegen IM der DDR nicht bestraft wurden, allerdings oft entlassen.«
Lothar de Maizière wird später sagen, er habe noch nie einen so animalischen Schrecken bekommen wie bei der ersten Hochrechnung. Ihm sei plötzlich klargeworden, welches Amt da auf ihn zu
18.3.1990, Lothar de Maizière und CDU-Generalsekretär Martin Kirchner im Wahlstudio
rollt: »Wir hatten am Nachmittag noch drei Varianten für die Presse geübt: Totale Niederlage, da haben wir schon gesagt, das können wir bleibenlassen, das wird es wohl nicht werden, achtbares Ergebnis und strahlender Sieg. Dass der Sieg allerdings so eindeutig ausfallen würde, hatten wir nicht geahnt.«
Für de Maizières Pressesprecher Matthias Gehler kommt das Wahlergebnis genauso überraschend. Nichts ist vorbereitet, und es entsteht plötzlich die Frage, wie kommt der Wahlsieger ins Pressezentrum, das sich im Palast der Republik befindet.
Gehler fährt einen »Manta«, sein erster Westwagen, den er sich für 3000 DM gebraucht gekauft hat: »De Maizière ist mit dem Manta von mir vorgefahren an den Palast der Republik, und wir sind dann zum Haupteingang rein, man vermutete uns dort gar nicht, sind ein paar Treppen hoch – und dann hat man uns erst entdeckt, da waren wir aber schon ziemlich weit gekommen, überraschenderweise. Und dann ging die Schlacht los. Es war sehr rabiat. Journalisten können da auch sehr heftig sein. Ich weiß noch, dass de Maizière eine Kamera an die Seite geschlagen bekommen hat. Ich habe einen Journalisten mit dem Arm abgewehrt. Das war also schon sehr dramatisch, und wir waren arg in die Enge geraten.«
Nach den Interviews im ARD-Wahlstudio gibt es nun das Problem, wie bekommt man den umdrängten Wahlsieger wieder heraus aus dem Palast der Republik und zur Wahlparty der CDU, die im »Ahornblatt« stattfindet. Glücklicherweise hat Gehler am Vorabend der Wahl herausgefunden, dass es einen unterirdischen Gang gibt, der vom Keller des Palastes in das gegenüberliegende Gebäude, den Marstall, führt.
»Wir sind dann in den großen, breiten Fahrstuhl gestiegen und sind nach unten gefahren, und die Tür ging auf, eine Etage tiefer, und dort stand Ibrahim Böhme mit dem Tross der SPD, die auch diesen Fahrstuhl benutzen wollten, aber wir waren schneller gewesen. Und es war irgendwo symbolisch und zugleich auch tragisch.
Mir ist der Augenblick heute noch in Erinnerung, wie die Tür aufgeht und der Ibrahim Böhme da steht, der sich so viel versprochen hatte und der dann in seinem ganzen Leben, auch durch seine StasiVerstrickung, so gescheitert ist. Es war auf der ganzen Linie eine menschliche Niederlage.«
Auch auf der Wahlparty im »Ahornblatt« wird Lothar de Maizière so bedrängt, dass er in die Küche flieht. Als er schließlich spät in der Nacht nach Hause fahren will, sind die Autoreifen des ersten frei gewählten Ministerpräsidenten der DDR zerstochen.
Großgaststätte und Diskothek auf der Fischerinsel. Das Gebäude war eigentlich ein Denkmal der DDR-Architektur, ist aber trotz großer Proteste im Jahre 2000 abgerissen worden.
3. Arbeitsbeginn
»Kommen Sie bitte ab morgen im Anzug.«
Matthias Gehler
Den ersten Arbeitstag in ihren Ressorts erleben die frischgebackenen Minister recht unterschiedlich. Lothar de Maizière trifft sich mit seinem Vorgänger im Amt, Hans Modrow, im Stadthaus, dem Sitz des Ministerrates, zur Übergabe wichtiger Unterlagen. Dabei handelt es sich um vier große Leitz-Ordner, darunter die Verteidigungsdoktrin des Warschauer Vertrages, Dokumente zur Staatsreserve der DDR und anderes. Dafür gibt es Karteikarten, die bei jedem Wechsel unterschrieben werden müssen: »Und das war ein ziem lich merkwürdiges Gefühl, auf einer Karteikarte, wo stand: Stoph, Sindermann; Stoph, Modrow, jetzt
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