Die letzten Tage
Funk mitbekommen, was bei dir zu Hause passiert ist. Daher wusste ich auch, dass die Kollegen dich hierher in die Klinik gebracht haben. Bist du okay?“
Grazia nickte. „Mit mir ist alles in Ordnung, aber ich fürchte, meine Mitbewohnerin Patrizia hatte nicht so viel Glück.“
„Komm.“ Lächelnd legte er den Arm um sie. „Ich fahre dich nach Hause.“
Grazia schüttelte den Kopf. „Danke, das ist echt nett von dir, aber ich bleibe lieber noch ein bisschen hier.“ Die große Uhr an der Korridorwand zeigte bereits kurz nach elf an, ihr blieb also nur noch etwas weniger als eine Stunde bis zu ihrem Treffen mit Zack. Und wenn sie sich jetzt von Silvio nach Hause bringen ließ, würde sie es nie rechtzeitig zur Spanischen Treppe schaffen. „Für den Fall, dass sich an Patrizias Zustand etwas ändert, möchte ich in der Nähe sein.“
„Es macht mir wirklich nichts aus zu warten, ich …“
„Ich habe Nein gesagt!“, fiel sie ihm brüsk ins Wort – und bereute ihre heftige Reaktion sofort, als sie seinen gekränkten Gesichtsausdruck bemerkte. Er meint es ja nur gut, rief sie sich in Erinnerung. Silvio ist für diese ganze Situation nicht verantwortlich, er versucht nur zu helfen. Sie seufzte. „Tut mir leid, ich wollte dich nicht so anblaffen. Ich bin einfach ziemlich mit den Nerven runter.“
„Kein Thema“, entgegnete er mit einem Schulterzucken. „Es ist deine Entscheidung. Wenn du deine Meinung ändern solltest – meine Handynummer steht auf der Telefonliste unserer Abteilung …“
Offenbar war er beleidigt, aber darauf konnte Grazia jetzt keine Rücksicht nehmen. „Danke, dass du gekommen bist. Wir sehen uns morgen auf der Arbeit, okay?“
Nachdem Silvio gegangen war, machte sich Grazia auf die Suche nach der Nachtschwester, um endlich in Erfahrung zu bringen, wie es Patrizia ging. Zuerst wollte die Frau nicht recht mit der Sprache herausrücken, schließlich war Grazia ja keine Verwandte. Als sie schon gerade ihren Dienstausweis zücken wollte, ließ die Schwester sich dann aber doch erweichen.
„Es tut mir leid, Signorina, aber der Zustand Ihrer Freundin gibt Anlass zur Besorgnis. Sie hat sich eine schwere Kopfverletzung zugezogen und ist bisher nicht aus der Bewusstlosigkeit erwacht.“
Schockiert starrte Grazia die Frau an. „Soll das heißen, Patrizia liegt im … Koma?“
Nach kurzem Zögern nickte die Schwester. „Ja – es tut mir leid.“
Grazia fühlte sich wie in Trance, als sie das Krankenhaus verließ. Zum Glück gelang es ihr, direkt draußen auf der Straße ein Taxi zu ergattern. An manchen Tagen konnte man angesichts des riesigen Verkehrsaufkommens fast mutmaßen, dass die Millionenmetropole mehr Autos als Einwohner besaß. Wenn man dann mal aber ein Taxi benötigte, war plötzlich nirgends eines aufzutreiben. Doch Grazia war mit ihren Gedanken ohnehin ganz woanders, während das nächtliche Rom an ihrem Fenster vorüberflog.
Sie konnte immerzu nur an Patrizia denken. An sie – und an Zack.
Was da vor ein paar Stunden in ihrer Wohnung geschehen war, hatte sie ganz schön aus der Bahn geworfen. Die Realität schien vollkommen aus den Fugen geraten zu sein, und die Wirklichkeit vermischte sich mit wirren Fieberfantasien. Blieb nur zu hoffen, dass Zack ihr wenigstens einige ihrer drängendsten Fragen beantworten konnte.
Grazias beste Freundin lag bewusstlos im Krankenhaus, und niemand konnte sagen, ob sie jemals wieder aufwachen würde. Sie selbst war von etwas angegriffen worden, das wie die Ausgeburt eines Albtraums aussah.
Sie hatte verdammt noch mal das Recht auf ein paar Antworten!
Tagsüber war die Spanische Treppe ein beliebter Treffpunkt für Einheimische und Touristen. Jetzt – kurz vor Mitternacht – lag die Piazza di Spagna verlassen da. Nur der schwache Schein des Mondes erhellte das Areal und tauchte die Umrisse der Kirche Santa Trinità dei Monti mit ihren hohen Glockentürmen und dem hohen ägyptischen Obelisken, der vor dem Eingangsportal stand, in silbrigen Glanz.
Suchend blickte Grazia sich um. „Zack?“
Ihre Stimme hallte geradezu gespenstisch über den weiten Platz. Irgendwo in weiter Ferne hörte sie einen Hund bellen, sonst nichts. Dann fing die Kirchenglocke an zu läuten.
Einmal.
Zweimal …
Beim zwölften Glockenschlag spürte Grazia plötzlich eine federleichte Berührung an ihrer Schulter. Mit einem erstickten Aufschrei wirbelte sie herum – und erblickte Zack.
Er trug sein schulterlanges schwarzes Haar im Nacken zu einem Zopf
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