Die letzten Tage
den Wagen in einer kleinen Seitenstraße der Via Mario de’ Fioriabgestellt. Er ging schnell – zu schnell für Grazia, die sich beeilen musste, um mit ihm Schritt zu halten.
Ihm war es nur recht.
Er brauchte ein bisschen Abstand von ihr, nach dem, was vorhin passiert war.
Zack erkannte sich selbst nicht wieder. Wieso hatte er Grazia geküsst? Sie war ein Mensch, und er verachtete alle Menschen! So war es doch – oder?
Er lebte nun schon so lange unter ihnen, und in gewisser Weise waren sie schlimmer als die schrecklichsten Ausgeburten der Hölle. Luzifer und seine Diener gaben wenigstens nicht vor, etwas anderes zu sein, als sie tatsächlich waren – nämlich abgrundtief böse. Die Menschen aber hassten und töteten einander, führten Kriege und zerstörten die Welt, auf der sie lebten. Und das alles taten sie unter dem Deckmantel von Liebe und Barmherzigkeit!
Was er machte, tat er nicht für sie. Nein, zur Rettung der Menschheit wäre er nicht einmal bereit gewesen, auch nur seinen kleinen Finger zu rühren. Doch in seiner Vision vom Weltuntergang waren die Seelen der Verstorbenen von den Dämonen der Hölle ins Fegefeuer gezerrt worden. Er wollte nicht, dass Merle oder Tobias so etwas Schreckliches zustieß. Um das zu verhindern, war er sogar bereit, den Menschen zu helfen, auch wenn es ihm nicht gefiel.
Er hatte nicht immer so gedacht. Aber nach dem, was mit Merle und Tobias passiert war, hatte er um sein Herz einen Eispanzer gelegt und nichts und niemanden mehr an sich herankommen lassen.
Seit fast vierhundert Jahren lebte er nur noch für eines.
Rache.
Lautlos folgte die finstere Gestalt dem Mädchen und seinem Begleiter durch die Gassen des Viertels von Rom, in dem sich die Spanische Treppe befand.
Er hielt sich im Schatten der Häuser, verschmolz mit der Dunkelheit der Nacht.
Manchmal ließ er sie so weit vorausgehen, dass sie außer Sichtweite gerieten. Er brauchte nicht zu fürchten, sie zu verlieren. Wenn er einmal die Witterung eines Menschen aufgenommen hatte, gab es kein Entkommen mehr.
Doch er würde ihnen nichts tun.
Noch nicht. Auch wenn ihr verführerischer Duft ihm das Wasser im Munde zusammenlaufen ließ. Aber bevor er sich mit der Kleinen und ihrem Freund – dieser vom Himmel gefallenen Missgeburt! – vergnügen konnte, musste er zunächst herausfinden, was sie vorhatten.
Wenn er ihr Geheimnis aber erst einmal herausgefunden hatte …
Sein Lachen hallte durch die Nacht – es klang wie das Bellen eines tollwütigen Hundes.
6. KAPITEL
Als Grazia zum zweiten Mal an diesem Abend ihre vollkommen verwüstete Wohnung betrat, überfiel sie eine Traurigkeit, die sich mit Worten nicht beschreiben ließ. Im Korridor hob sie ein altes Fotoalbum auf, das sie immer ganz unten in ihrer Schublade versteckt hatte. Ein paar der eingeklebten Bilder waren herausgefallen und lagen über den ganzen Fußboden verstreut.
Zack kniete sich neben sie und half ihr, die Fotos aufzusammeln. Bei einem hielt er plötzlich inne und betrachtete es eindringlich.
„Wer sind diese Leute?“, fragte er und hielt es ihr hin. „Deine Eltern?“
Auf dem Bild war ein Paar zu erkennen, das strahlend in die Kamera blickte. Die Frau hielt ein kleines Mädchen von etwa anderthalb Jahren auf dem Arm, das ein zahnloses Lächeln zeigte.
Jeder, der das Foto betrachtete, sah eine harmonische und glückliche Familie. Doch Grazia wusste, dass die Frau nur etwas mehr als zwei Jahre, nachdem diese Aufnahme gemacht worden war, einfach ihren Mann und ihre Tochter im Stich gelassen hatte und kurze Zeit später mit ihrem Wagen tödlich verunglückt war. Der Mann zog sich daraufhin vollkommen in seine Arbeit zurück und kümmerte sich schließlich um nichts anderes mehr – nicht einmal um seine Tochter, die seine Hilfe doch so nötig gebraucht hätte.
Diese beiden Menschen auf dem Foto mochten rein biologisch gesehen Grazias Eltern sein – doch darüber hinaus hatten sie nichts getan, um sich diese Bezeichnung auch zu verdienen.
Grazia schloss die Augen und kämpfte stumm gegen die Dämonen ihrer Vergangenheit an, die sie längst überwunden geglaubt hatte. Doch offenbar vergingen schmerzhafte Erinnerungen nie. Und es tat noch immer weh. Selbst heute noch, nach all den Jahren.
Sie schluckte hart, um den Kloß, der sich in ihrer Kehle gebildet hatte, loszuwerden. Dann nahm sie Zack das Foto ab und schob es scheinbar achtlos zu den anderen ins Album.
Als sie seinen fragenden Blick bemerkte, schüttelte sie den Kopf.
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