Die letzten Tage
kommen, desto schneller findet dieser ganze Horror hier ein Ende.“
Zack zögerte noch einen Moment, nickte aber schließlich. „Du hast ja recht. Also los.“
Das Apartment mit der Nummer Fünf befand sich im Souterrain des Gebäudes – eine Bezeichnung, die in Grazias Augen eine Beschönigung für das Kellerloch darstellte, in das man über eine schmale, mit Unrat übersäte Treppe gelangte. Einmal huschte ihr eine Ratte über die Füße, doch ehe sie schreien konnte, war das Tier schon in irgendeiner finsteren Ecke verschwunden.
„Hier kann doch kein Mensch wohnen!“, stieß sie angewidert aus.
Zack zuckte mit den Schultern. „Ich habe schon in weitaus schlimmeren Behausungen gelebt“, entgegnete er lapidar. Grazia mochte sich lieber gar nicht erst vorstellen, was das bedeutete.
Als sie schließlich vor der Tür der Wohnung standen, klopfte ihr das Herz vor Aufregung bis zum Hals, und ihre Hand, die sie nach der Türklingel ausstreckte, zitterte. Dabei passierte zunächst einmal gar nichts.
„Der Vogel scheint ausgeflogen zu sein“, kommentierte Zack stirnrunzelnd. „Und jetzt? Irgendwelche Vorschläge?“
Da ertönte plötzlich ein Summton, und die Wohnungstür sprang einen Spalt weit auf und gab den Blick auf einen dunklen Korridor frei.
„Allerdings“, erwiderte Grazia, wobei sie sich bemühte, das Beben in ihrer Stimme zu unterdrücken. „Los, lass uns reingehen, bevor ich es mir noch anders überlege.“
Nachdem sie beide die Schwelle übertreten hatten, fiel die Tür mit einem lauten Knall wieder ins Schloss. Erschrocken zuckte Grazia zusammen, und auch Zack wirbelte alarmiert herum. Doch hinter ihnen war niemand.
„Vermutlich nur der Wind“, versuchte sie sich selbst zu beruhigen.
„Eher unwahrscheinlich“, murmelte Zack und blickte sich misstrauisch um. „Als wir das Haus betreten haben, war es absolut windstill, und ich habe vorhin im Flur keine Zugluft bemerkt.“ Er ging zurück zur Tür und untersuchte sie. „Keine Klinke und kein Knauf. Mir gefällt das nicht, Grazia. Irgendwas stinkt hier ganz gewaltig …“
Sie liefen trotzdem weiter. Was blieb ihnen auch anderes übrig, wo ihnen der Rückweg abgeschnitten worden war?
Vom Korridor gingen mehrere Zimmer ab, doch aus irgendeinem Grund spürte Grazia, dass der Raum ganz am gegenüberliegenden Ende des Ganges der richtige war. Zielstrebig hielt sie darauf zu und streckte schon die Hand nach dem Türknauf aus, als Zack sie zurückhielt.
„Warte!“, raunte er ihr zu. „Das könnte eine Falle sein. Wir wissen nicht, mit wem oder was wir es hier zu tun haben!“
„Unsinn, ich …!“
Der Rest des Satzes blieb unausgesprochen in der Luft hängen, denn in diesem Moment wurde die Zimmertür von innen geöffnet, und ein hochgewachsener weißhaariger Mann erschien im Türrahmen.
Er ist alt geworden! dachte Grazia fast ein wenig entsetzt. Die vergangenen zehn Jahre waren nicht spurlos an ihrem Vater vorübergegangen. Tiefe Falten hatten sich rund um die Augen in sein Gesicht gegraben, er sah erschöpft und übermüdet aus.
Davon abgesehen hatte sich Umberto Bassani aber so gut wie überhaupt nicht verändert. Er trug noch immer mit Vorliebe Hosen aus grobem Cordstoff, dazu kombinierte er heute ein kurzärmeliges Hemd und einen hellblauen Strickpullunder.
Einen Augenblick lang stand sie einfach nur da und starrte ihn an, unfähig, auch nur einen Muskel zu rühren. Dann entrang sich plötzlich ein Schluchzen ihrer Kehle, und sie schlug die Hand vor den Mund.
„Papà“ , fl üsterte sie atemlos. „Bist du es wirklich?“
„ Bella gioia! Wie lange habe ich auf diesen Moment gewartet!“
Umberto Bassani führte sie durch ein Labyrinth aus Korridoren und Türen. Offensichtlich war die Souterrainwohnung erheblich größer, als es von außen den Eindruck machte. Schließlich erreichten sie einen schummrig erleuchteten, chaotisch wirkenden Raum. Bücher stapelten sich an der Wand vom Boden bis zur Decke, auf so ziemlich jedem freien Platz lagen Dokumente und dicht an dicht beschriebene Notizzettel.
Kurz blickte er sich ratlos um, dann beförderte er einfach einen Stoß loser Blätter von der Sitzfläche einer durchgesessenen braunen Ledercouch auf den Boden und bot Zack und seiner Tochter einen Platz an. Er selbst setzte sich auf einen alten Bürostuhl, der bei jeder Bewegung protestierend quietschte.
Einmal mehr kämpfte Grazia mit den Tränen. Sie wusste selbst nicht, was mit ihr los war, normalerweise ließ sie sich
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