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Die letzten Tage

Die letzten Tage

Titel: Die letzten Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dana Kilborne
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also, dass …
    Nach dem dritten Klingeln sprang eine Bandansage an. Sie erkannte die Stimme auf Anhieb.
    „Grazia , meine Schöne“, hörte sie ihren Vater sagen. Bella gioia – so hatte er sie früher immer genannt, als sie noch klein und die Welt für sie noch in Ordnung gewesen war. Grazia schluckte schwer und kämpfte die Tränen, die ihr in die Augen zu steigen drohten, zurück. „Da du diese Nummer gewählt hast“, sprach er weiter, „muss dir etwas wirklich Schreckliches zugestoßen sein, denn ich weiß, dass du ansonsten niemals versucht hättest, Kontakt zu mir aufzunehmen – nicht nach allem, was zwischen uns vorgefallen ist. Ich werde dir nun erklären, wie du mich finden kannst. Du musst …“
    Hastig kritzelte Grazia die Anweisungen, die ihr Vater ihr gab, auf die Rückseite des Zettels mit der Notfallnummer. Dann hängte sie den Hörer zurück auf die Gabel und trat aus dem Telefonhäuschen, dessen Scheiben von irgendwelchen Vandalen zerstört worden waren.
    Zack musterte sie fragend.
    „Wir müssen nach Tiburtina fahren“, teilte Grazia ihm knapp mit.
    Auf einmal fühlte sie sich schrecklich müde und einsam.
    Sie fuhren mit der Metrolinie B bis zur Stazione di Roma Tiburtina, die östlich der Altstadt gelegen war. Während der Zug ratternd durch die Tunnel tief unter den Straßen Roms fuhr, betrachtete Grazia nachdenklich ihr Spiegelbild in der Fensterscheibe.
    Ihr war, als würde sie eine völlig Fremde anschauen – und sie war nicht sicher, ob sie die Person mochte, die sie dort sah.
    Als vorhin die Stimme ihres Vaters auf der Bandansage des Anrufbeantworters erklungen war, hatte sie sich wieder gefühlt wie das zwölfjährige Mädchen, das von Mitarbeitern des Jugendamts aus ihrem Elternhaus geholt und in ein Heim gebracht worden war. Sie erinnerte sich, als sei es erst gestern gewesen. Die ersten Tage hatte sie nur am Fenster ihres neuen Zimmers gestanden und zur Straße hinausgeblickt, in der Hoffnung, ihr Vater würde kommen und sie zu sich zurückholen.
    Doch er kam nicht. Weder am ersten noch am fünften oder zwanzigsten Tag.
    Der Schmerz raubte ihr fast den Verstand, aber irgendwann stellte sie fest, dass sie ihn leichter ertragen konnte, wenn sie wütend war. Also projizierte sie all ihre Wut und ihren Hass auf die Person, die für ihr Leid verantwortlich war: ihr Vater.
    Über die Jahre war er zu einer Gewohnheit geworden. Sie konnte sich kaum noch an Zeiten erinnern, in denen sie Umberto Bassani gegenüber etwas anderes als Abneigung empfunden hatte.
    Doch jetzt – nachdem sie nur ein paar Sekunden lang seine Stimme auf Band gehört hatte – war plötzlich alles anders. Sie konnte ihn nicht mehr hassen. Was blieb, war ein Gefühl tiefer Traurigkeit und die Frage nach dem Warum.
    Der Stadtteil Tiburtina gehörte nicht zu den architektonisch schönsten Vierteln Roms. Ein Großteil der Bebauung war erst nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden, und es handelte sich fast ausschließlich um Arbeiterwohnungen und Industrieflächen.
    Das Haus, zu dem ihr Vater sie mit seinen Anweisungen geführt hatte, lag in einer Seitenstraße der Via Tiburtina, nahe dem Fluss Aniene – einem kleinen Nebenarm des Tibers. Es sah ziemlich heruntergekommen und wenig einladend aus mit seiner grauen Betonfassade und den vor Schmutz ganz blinden Fenstern.
    Grazia kontrollierte noch einmal die Adresse, die sie sich notiert hatte, dann zuckte sie mit den Schultern. „Sieht so aus, als wären wir hier richtig.“
    „Mir gefällt das nicht“, meldete sich Zack zum ersten Mal, seit sie den Bahnhof verlassen hatten, zu Wort. Zum wiederholten Male fiel ihr auf, dass er sich nervös umblickte.
    „Was ist los?“, fragte sie stirnrunzelnd. „Stimmt etwas nicht?“
    „Ich …“ Er schüttelte den Kopf. „Ich bin nicht sicher. Es ist nur so ein Gefühl … Mir ist, als würde uns jemand beobachten – und zwar schon eine ganze Weile. Aber eigentlich kann das nicht sein! Meine Instinkte sind, was so etwas betrifft, sehr stark ausgeprägt. Ich hätte unseren Verfolger längst bemerken müssen.“
    „Dann wird es wohl an deinen überreizten Nerven liegen“, entgegnete Grazia mit einer Zuversicht, die sie nicht empfand. In Wahrheit war sie mehr als beunruhigt – aber sie wollte auch endlich zu ihrem Vater und nicht noch mehr Zeit verschwenden.
    Zehn Jahre waren wirklich mehr als genug.
    „Komm schon, lass uns endlich reingehen“, drängte sie. „Je eher wir dem Geheimnis der Bruderschaft auf die Spur

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