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Die Leute mit dem Sonnenstich

Die Leute mit dem Sonnenstich

Titel: Die Leute mit dem Sonnenstich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst Biernath
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beschleunigen.
    Der arme Herr Keyser blickte immer häufiger nach seiner Armbanduhr, nach den Kilometertafeln und nach dem Gewölk. Seine anfänglichen Versuche, das leise ferne Donnergrollen durch heftige Hustenanfälle zu übertönen, hatte er längst aufgegeben.
    Vor einer guten Stunde hatten sie das Lager am Erlengebüsch verlassen, und seit dieser ganzen Zeit war Marion, bis auf die notwendigen Instruktionen an Steffen, stumm wie ein Fisch gewesen. Den verzweifelten Versuchen ihres Vaters, es Steffen gleichzutun und die Paddel lebhafter kreisen zu lassen und kräftiger durchzuziehen, setzte sie einen sturen Widerstand entgegen. Beide Herren zweifelten nicht mehr daran, daß sie es mit Absicht tat, um sie ihre sybaritischen Gelüste und die fraglos entdeckte Verschwörung büßen zu lassen.
    Der bedauernswerte Herr Keyser, der so inbrünstig gehofft hatte, bei Anbruch der Dämmerung ein schützendes Dach über dem kahlen Haupt und eine lieblich mit Spargel garnierte Kalbslende oder eine Platte voll köstlichen rohen Schinkens vor sich zu haben, sah sich bitter enttäuscht. Der gedeckte Tisch floh vor ihm wie eine Fata Morgana, und das einzige, was sich näherte, das waren tintenschwarze Wolken.
    Das schöne Farbenspiel sommerlicher Sonnenuntergänge hinter apfelgrünen Horizonten mit violetten Wolkenspindeln hatte der Himmel heute vom Programm gestrichen. Anstelle des bezaubernden Verblassens der Farben, anstelle kupferner Wasserspiegelungen und romantischer Abendstimmungen, die Marion ihrem Alten Herrn bislang als fragwürdige Ersatzstücke für sein gutes Bett und Wallys Küche vorgesetzt hatte, gab es einen tropischen Einbruch der Nacht. Ja, plötzlich, als habe jemand einen Schalter abgedreht, war die Sonne weg. Dumpfes, bleiernes Dunkel lagerte sich schwer über Strom und Ried, die Donnerschläge hallten schrecklich nah, und die Blitze rissen feurige Streifen in den düsteren Vorhang, der außer einem winzigen Stückchen Blau im Osten nun schon den ganzen Himmel überzogen hatte. Windstöße fuhren klirrend ins Schilf und schüttelten die Weiden und Erlen am Ufer. Und mit einem Schlage, zwischen Blitz und Krach, setzte der Regen ein. Ach was, Regen! Ein Wolkenbruch, als käme statt jeden Tropfens ein Eimer voll Wasser herunter.
    »Zum Ufer!« schrie Herr Keyser durch Donner und Wetter seiner Tochter zu und gab aus Leibeskräften mit dem Ruderblatt Gegendruck, so daß der Zweier seine Nase scharf nach rechts legte.
    Ein schwerer Windstoß traf die Breitseite und entführte, während Marion sich bemühte, eine Kenterung des Bootes zu verhindern, die Flußkarte. Sie flatterte wie ein riesiger Vogel davon und klatschte nach kurzem Taumelflug ins Wasser.
    »Unmöglich!« fauchte Marion zurück. »Es ist ein Steilufer! Wir müssen im Strom bleiben!« Sie riß das Boot wieder in die Mitte, der verlorenen Flußkarte nach, die aber zu rasch absoff, als daß Marion sie noch hätte mit dem Paddel auffischen können.
    Thomas Steffen war inzwischen ein Stück vorausgekommen.
    zehn oder zwanzig Bootslängen vielleicht, aber so tintig war die Luft und so dick hingen die Regenschnüre herunter, daß man von ihm kaum mehr als einen Schatten sah. Selbst wenn die Blitze aufzuckten, glitt er wie hinter einer trüben Glaswand voraus.
    Und hinter ebenso milchig trüben Schleiern lagen die Ufer verborgen. — Herr Keyser fror entsetzlich. Seine Ölhaut und sein Südwester lagen zutiefst in Steffens Boot verstaut. Die Böen peitschten ihm Wasser von oben und von unten ins Gesicht, und aus dem graumelierten Haarkranz floß es ihm über Brust und Rücken, rann an ihm kalt und ekelhaft ins Boot hinein, überschwappte dort bald den Sitzrost und verursachte in seinem Hirn scheußliche Vorstellungen von Tod und Untergang. Und vorn sang Marion wahrhaftig mit weithin schallender Stimme: »Stürmisch die Nacht, und die See geht hoch...«
    »Hör auf!« brüllte er. »Hör um Himmels willen mit diesem Lied auf!«
    Aber sie tat, als höre sie ihn nicht. Er klammerte sich krampfhaft an sein Paddel und überließ es Marion, ihn ins Verderben zu fahren. Jonas im Bauch des Walfisches wußte wenigstens, wo er sich befand. Solch eine tröstliche Gewißheit war dem Alten Herrn seit einer guten Viertelstunde gänzlich abhanden gekommen. Er fühlte sich einfach verschluckt, aber nicht im warmen Magen des Leviathan, sondern verschluckt von Nacht, Nebel, Kälte, Wasser und Donnerlärm.
    Eine Zeitlang ging ihnen Thomas Steffen im Wettergetöse gänzlich

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