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Die Libelle

Die Libelle

Titel: Die Libelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John le Carré
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Blinkfeuer am Ufer während eines Sturms. Mit halbgeballter Faust schlug sie ein drittes Mal zu und spürte, wie sie sich die Knöchel verstauchte, aber sie sah, wie ihm das Blut über die Backe lief. Sie kreischte: »Faschistenschwein!« schrie es immer wieder und spürte, dass ihr die Kraft ebenso ausging wie die Puste. Sie sah, dass Raoul, der strohblonde Hippie, an der Tür stand, und eines der Mädchen - Rose aus Süd-Afrika -vor das französische Fenster trat und die Arme ausbreitete, falls Charlie versuchen sollte, auf die Veranda zu springen, und wünschte mit allen Fasern, sie könnte verrückt werden, damit alle Mitleid mit ihr hätten; sie wünschte, sie wäre nichts weiter als eine Verrückte, die einen Tobsuchtsanfall hatte und nur darauf wartete, abgeführt zu werden, nicht jedoch eine dumme, törichte kleine radikale Schauspielerin, die mit der Zeit schwache Versionen von sich selbst erfunden, die ihren Vater und ihre Mutter verleugnet und sich unausgegorenen Überzeugungen in die Arme geworfen hatte, von denen sich loszusagen sie jetzt nicht den Mumm hatte, und im übrigen: was hatte es denn bis jetzt gegeben, um an deren Stelle zu treten? Sie hörte wie Kurtz allen auf englisch befahl, sich nicht von der Stelle zu rühren. Sie sah, wie Joseph sich abwendete; sah, wie er ein Taschentuch aus der Tasche zog und sich damit den Mund abtupfte, ihr gegenüber genauso gleichgültig, als wäre sie eine ungezogene fünfjährige Göre. »Bastard!« schrie sie ihn nochmals an, traf ihn seitlich am Kopf mit einem wuchtigen Schlag der offenen Hand, bei dem ihr Handgelenk umknickte und die Hand vorübergehend ganz gefühllos wurde, doch inzwischen hatte sie sich völlig verausgabt, war sie mutterseelenallein und wünschte nichts weiter, als dass Joseph zurückschlug.
    »Nur keine Scheu, Charlie«, riet Kurtz ihr ruhig von seinem Stuhl aus. »Sie haben ja Frantz Fanon gelesen. Gewalttätigkeit als reinigende Kraft, wissen Sie noch? Sie befreit uns von unseren Minderwertigkeitskomplexen, macht uns unerschrocken und stellt unsere Selbstachtung wieder her.«
    Es gab nur einen Ausweg für sie, und so beschritt sie ihn. Sie ließ die Schultern hängen, barg das Gesicht mit dramatischer Geste in den Händen und weinte untröstlich, bis - auf ein Kopfnicken von Kurtz hin - Rachel sich vom Fenster aus näherte und ihr den Arm um die Schulter legte, etwas, wogegen Charlie sich wehrte, um es dann doch geschehen zu lassen.
    »Drei Minuten, nicht länger«, rief Kurtz, als die beiden auf die Tür zugingen. »Sie zieht sich nicht um und legt auch keine neue Identität an, sondern kommt gleich wieder hierher zurück. Ich möchte, dass der Motor weiterläuft. Charlie, stehen bleiben, wo Sie sind, nur einen Moment. Warten Sie. Ich habe stehen bleiben gesagt!« Charlie blieb stehen, drehte sich jedoch nicht um. Regungslos stand sie da, schauspielerte mit dem Rücken und überlegte jammervoll, ob Joseph wohl was wegen der Schmarre in seinem Gesicht unternahm.
    »Das haben Sie gut gemacht, Charlie«, sagte Kurtz ohne Herablassung vom anderen Ende des Raums zu ihr. »Gratuliere! Sie haben versucht wegzutauchen, aber Sie haben sich wieder gefasst. Sie haben gelogen, haben sich verfranzt, aber Sie sind drangeblieben, und als die Leitung unterbrochen wurde, haben Sie sich aufgeführt wie eine Furie und der ganzen Welt die Schuld an Ihren Schwierigkeiten gegeben. Wir sind stolz auf Sie. Nächstes Mal werden wir uns eine bessere Geschichte für Sie ausdenken. Beeilen Sie sich, ja? Wir haben gerade jetzt nur noch sehr, sehr wenig Zeit.«
    Im Badezimmer stand Charlie da, den Kopf an die Wand gelehnt, und schluchzte, während Rachel Wasser ins Waschbecken einlaufen ließ und Rose für alle Fälle draußen wartete.
    »Ich begreife nicht, wie du England auch nur eine Minute aushältst«, sagte Rachel und legte Seife und Handtuch für sie bereit. »Ich hab’ das fünfzehn Jahre durchgemacht, ehe wir weggingen. Ich dachte, ich müsste sterben. Kennst du Macclesfield? Das ist der Tod. Zumindest, wenn man Jüdin ist. Dieses Klassendenken, diese Kälte und diese Heuchelei! Für mich ist das der elendigste Ort auf der ganzen Welt, dieses Macclesfield, als Jüdin, glaub mir. Ich hab’ mir im Bad die Haut mit Zitronensaft abgeschrubbt, weil man mir sagte, sie sei teigig. Geh nicht ohne mich in die Nähe dieser Tür, ja, Liebes, ich müsste dich davon abhalten.«
    Der Morgen graute, es war also Zeit, zu Bett zu gehen, und sie war wieder bei ihnen, und

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