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Die Libelle

Die Libelle

Titel: Die Libelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John le Carré
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sage ich dir, trat die vernichtende Schwäche einer friedfertigen Gesellschaft zutage. Wir hatten keine Organisationen, wir konnten uns nicht gegen den bewaffneten Aggressor zur Wehr setzen. Unsere Kultur wurde in kleinen Gemeinschaften gepflegt, von denen jede in sich vollständig und abgeschlossen war. Das gleiche trifft auf unsere Wirtschaft zu. Doch wie den europäischen Juden vor dem Holocaust, fehlte uns die politische Einheit, und das war unser Verhängnis. Viel zu oft kam es vor, dass die Gemeinwesen sich gegenseitig bekämpften, doch das ist der Fluch der Araber und vielleicht auch der Juden überall auf der Welt. Weißt du, was sie mit meinem Dorf gemacht haben, diese Zionisten? Weil wir nicht fliehen wollten wie unsere Nachbarn?«
    Sie wusste, dass sie es nicht wusste. Doch das war auch nicht weiter wichtig; er achtete ohnehin nicht auf sie.
    »Sie machten Fassbomben, die sie mit Benzin und mit Sprengstoffen füllten, ließen sie den Hügel hinunterrollen und steckten unsere Frauen und Kinder in Brand. Ich könnte dir eine ganze Woche lang davon erzählen, nur von den Qualen, die sie meinem Volk angetan haben. Hände abgehackt, Frauen vergewaltigt und verbrannt, Kinder geblendet.«
    Nochmals stellte sie ihn auf die Probe, wollte sie herausfinden, ob er das selbst glaubte, doch wollte er ihr außer einem höchst feierlichen Gesichtsausdruck, der zu jeder seiner Naturen gepasst hätte, keinen Anhaltspunkt geben.
    »Ich flüstere dir die Worte Deir Yassin zu. Hast du sie zuvor gehört? Weißt du, was sie bedeuten?«
    Nein, Michel, ich habe sie noch nie gehört.
    Das schien ihn zu erfreuen. »Dann frag mich jetzt: Was bedeutet Deir Yassin ?«
    Sie tat es. Bitte, Herr, was bedeutet Deir Yassin ?
    »Wieder antworte ich dir, als ob ich es gestern mit eigenen Augen gesehen hätte. Am 9. April 1948 wurden in dem kleinen arabischen Dorf Deir Yassin zweihundertvierundfünfzig Dorfbewohner - Greise, Frauen und Kinder - von zionistischen Terrorkommandos niedergemetzelt, während die jungen Männer bei der Feldarbeit waren. Schwangeren Frauen wurden die ungeborenen Kinder im Leib umgebracht. Die meisten Leichen wurden in einen Brunnen geworfen. Es dauerte nur wenige Tage, und nahezu eine halbe Million Palästinenser war aus ihrer Heimat geflohen. Das Dorf meines Vaters bildete eine Ausnahme. ›Wir werden bleiben‹ , sagte er. ›Wenn wir in die Verbannung gehen, lassen uns die Zionisten nie wieder zurückkehren.‹ Er glaubte sogar, ihr Briten würdet wiederkommen, um uns zu retten. Er hat nicht begriffen, dass euer imperialistischer Ehrgeiz darauf ausgerichtet war, im Herzen des Nahen Ostens einen gehorsamen westlichen Verbündeten sich einnisten zu lassen.«
    Sie spürte seinen Blick und fragte sich, ob ihm bewusst sei, dass sie sich innerlich zurückgezogen hatte, oder ob er entschlossen war, das nicht zur Kenntnis zu nehmen. Erst hinterher ging ihr auf, dass er sie absichtlich ermunterte, sich von ihm abzuwenden und ins gegnerische Lager überzugehen.
    »Noch fast zwanzig Jahre nach der Katastrophe klammerte sich mein Vater an das, was von unserem Dorf noch übrig geblieben war. Einige schimpften ihn einen Kollaborateur. Sie hatten keine Ahnung. Sie hatten nie den zionistischen Stiefel im Genick gehabt. Überall um uns herum in den benachbarten Gebieten wurden die Menschen vertrieben, geschlagen, verhaftet. Die Zionisten nahmen ihnen ihr Land weg, machten ihre Häuser mit Bulldozern dem Erdboden gleich und bauten auf ihnen neue Siedlungen, in denen kein Araber leben durfte. Aber mein Vater war ein Mann des Friedens und der Weisheit, und eine Zeitlang hielt er die Zionisten von unserer Haustür fern.«
    Wieder wollte sie ihn fragen: Ist das wahr? Doch wieder kam sie zu spät.
    »Aber als im 67er-Krieg die Panzer auf unser Dorf zurollten, da flohen auch wir über den Jordan. Tränen in den Augen, rief mein Vater uns zusammen und befahl uns, unsere Habseligkeiten zusammenzusuchen. ›Die Pogrome werden jeden Augenblick losgehen‹ , sagte er. Ich fragte ihn - ich, der Kleinste, der keine Ahnung hatte: ›Vater, was ist ein Pogrom?‹ Und er erwiderte: ›Das, was die Europäer den Juden angetan haben, tun uns jetzt die Zionisten an. Sie haben einen großen Sieg errungen, und sie könnten es sich leisten, großmütig zu sein. Aber in ihrer Politik ist von dieser Tugend nichts zu spüren.‹ Bis zu meinem Tode werde ich nie vergessen, wie mein stolzer Vater die elende Hütte betrat, die von nun an unser Zuhause sein

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