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Die Libelle

Die Libelle

Titel: Die Libelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John le Carré
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wir den Autor erschießen und nach Hause gehen?«
    Sie trank einen Schluck Wein. Dann noch einen. »Es ist stimmig. Bis jetzt lässt es sich spielen.«
    »Und der Brief - nicht zuviel des Guten - du kannst damit leben?« »Wenn man es nicht alles in einem Liebesbrief raushängen kann - wo dann?«
    »Ausgezeichnet. Dann schreibst du ihm so, und so läuft das Stück bis jetzt auch ab. Bis auf eine Kleinigkeit. Dass dies nicht dein erstes Zusammentreffen mit Michel ist.«
    Alles andere als bühnenwirksam stellte sie ihr Glas mit einem Ruck hin.
    Eine neue Erregung hatte sich seiner bemächtigt: »Hör zu«, sagte er, lehnte sich vor, und das Kerzenlicht fiel auf seine gebräunten Schläfen wie Sonnenstrahlen auf einen Helm. »Hör zu«, wiederholte er. »Hörst du mir zu?« Aber wieder wartete er ihre Antwort nicht ab. »Ein Zitat. Von einem französischen Philosophen. Das größte Verbrechen besteht darin, nichts zu tun, weil wir befürchten, dass wir nur wenig bewirken können . Klingelt da nichts bei dir?«
    »Mein Gott!« sagte Charlie leise und kreuzte unwillkürlich die Arme vor der Brust, wie um sich zu schützen. »Soll ich fortfahren?« Er tat es ohnehin. »Erinnert dich das nicht an jemand? Es gibt nur einen Klassenkampf, und zwar den zwischen den Kolonisatoren und den Kolonisierten, den Kapitalisten und den Ausgebeuteten . Unsere Aufgabe ist es, den Krieg unter diejenigen zu tragen, die ihn machen. Unter die rassistischen Millionäre, die die Dritte Welt als Selbstbedienungsladen betrachten. Unter die korrupten, durch Öl reich gewordenen Scheichs, die das Geburtsrecht der Araber verkauft haben.« Er hielt inne, bemerkte, wie ihr Kopf zwischen die Hände gesunken war.
    »Hör auf, Jose«, flüsterte sie. »Das ist zuviel. Geh nach Hause.«
    » Unter die imperialistischen Kriegstreiber, die die zionistischen Aggressoren mit Waffen versorgen. Unter die hirnlose westliche Bourgeoisie, die, ohne es zu wissen, selber Sklaven, Fortsetzer des eigenen Systems sind .« Das war kaum noch ein Flüstern, aber seine Stimme klang gerade deswegen um so eindringlicher. » Die Welt sagt uns, wir sollen keine unschuldigen Frauen und Kinder angreifen. Aber ich sage euch, so etwas wie Unschuld gibt es gar nicht mehr. Für jedes Kind, das in der Dritten Welt vor Hunger stirbt, gibt es im Westen ein Kind, das ihm seine Nahrung gestohlen hat...«
    »Hör auf«, wiederholte sie durch die Finger hindurch: jetzt war sie sich des Bodens, auf dem sie stand, nur allzu sicher. »Es reicht. Ich geb’ auf.«
    Doch er fuhr unbeirrt fort: » Mit sechs wurde ich aus unserem Land vertrieben. Mit acht schloss ich mich der Ashbal an. - Was ist die Ashbal, bitte? - Komm, Charlie, das war deine Frage. Warst du es nicht, die diese Frage gestellt - die die Hand hochgehoben hat? - ›Was ist die Ashbal, bitte?‹ Und was habe ich geantwortet?«
    »Kinder-Miliz«, sagte sie, das Gesicht immer noch in den Händen. »Mir wird’s gleich schlecht, Jose. Jetzt.«
    » Mit zehn kauerte ich in einem selbstgebauten Schutzraum, während die Syrer unser Lager mit Raketen belegten. Als ich fünfzehn war, kamen meine Mutter und meine Schwester bei einem zionistischen Bombenangriff ums Leben. Fahr bitte fort, Charlie - beende du meine Lebensgeschichte für mich.«
    Sie hatte wieder seine Hand ergriffen - diesmal mit beiden Händen - und schlug sie sanft voller Vorwurf gegen die Tischplatte.
    » Wenn Kinder bombardiert werden können, können sie auch kämpfen «, erinnerte er sie. »Und wenn sie Siedlungen anlegen? Was dann? Mach schon!«
    »Dann müssen sie getötet werden«, murmelte sie widerstrebend.
    »Und wenn ihre Mütter sie nähren und lehren, uns unsere Häuser wegzunehmen und unser Volk im Exil zu bombardieren?« »Dann stehen ihre Mütter mit ihren Männern in vorderster Linie. Jose…«
    »Und wie reagieren wir darauf?«
    »Dann müssen auch sie getötet werden. Aber ich habe ihm damals nicht geglaubt, und ich glaube ihm auch heute nicht.« Er überhörte ihren Einwand. Er beteuerte ihr seine ewige Liebe. »Hör zu! Während ich dich auf dem Wochenendseminar mit meiner Botschaft begeisterte, sah ich durch die Augenschlitze in meinem schwarzen Kopfschützer, wie du mir dein hingerissenes Gesicht zuwandtest. Dein rotes Haar. Deine markanten, revolutionären Züge. Ist es nicht merkwürdig, dass bei unserer ersten Begegnung ich es war, der auf der Bühne stand, und du unter den Zuschauern saßest?«
    »Ich war hingerissen! Ich hielt dich für vollkommen

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