Die Libelle
zwei Nächte und einen Tag im Motel verbracht, sagte er; das gehe aus den Eintragungen hervor.
»Wenn man die Angestellten ausquetscht, werden sie sich an ein Liebespaar erinnern, auf das unsere Beschreibung zutrifft. Unser Schlafzimmer lag am westlichen Ende des Gebäudekomplexes und ging auf einen eigenen kleinen Garten hinaus. Wenn es soweit ist, wird man dich hinbringen, dann kannst du dir selbst ein Bild davon machen.«
Die meiste Zeit hätten sie im Bett verbracht, sagte er, über Politik geredet, sich gegenseitig ihr Leben erzählt, sich geliebt. Die einzigen Unterbrechungen seien ein paar Spritztouren in die ländliche Umgebung von Nottingham gewesen, doch habe das Verlangen nacheinander sie rasch wieder gepackt, und sie seien ins Motel zurückgeeilt.
»Warum haben wir denn nicht einfach im Auto eine Nummer geschoben?« erkundigte sie sich in dem Bemühen, ihn aus seiner düsteren Stimmung herauszuholen. »Ich hab’s gern spontan.«
»Deine Neigungen in allen Ehren, doch leider ist Michel in diesen Dingen ein bisschen schüchtern und zieht die Ungestörtheit des Schlafzimmers vor.«
Sie versuchte es noch einmal. »Und wie ist er überhaupt im Bett?«
Auch darauf hatte er eine Antwort: »Nach unseren bestinformierten Berichten ein bisschen phantasielos, aber seine Begeisterung ist grenzenlos, und seine Manneskraft beeindruckend.«
»Danke«, sagte sie ernst.
Montag in aller Frühe, fuhr er fort, sei Michel nach London zurückgekehrt, doch Charlie, die erst am Nachmittag Probe hatte, sei mit gebrochenem Herzen im Motel zurückgeblieben. Munter beschrieb er ihren Kummer.
»Der Tag ist dunkel, wie bei einer Beerdigung. Der Regen fällt immer noch. Vergiss das Wetter nicht. Zuerst bist du so in Tränen aufgelöst, dass du nicht mal aufstehen kannst. Du liegst im Bett, das noch ganz warm von seinem Körper ist. Du weinst dir die Augen aus. Er hat dir gesagt, er werde versuchen, nächste Woche nach York zu kommen, doch du bist überzeugt, dass du ihn nie im Leben wieder siehst. Was machst du also?« Er gab ihr gar keine Chance zu antworten. »Du hockst dich vor den Spiegel an den schmalen Frisiertisch und starrst die Male an, die seine Hände auf deinem Körper hinterlassen haben, und deine eigenen Tränen, die immer noch fließen. Du ziehst eine Schublade auf. Nimmst die Schreibmappe des Motels heraus, einen Reklamekugelschreiber. Und schreibst ihm einen Brief, so, wie du da sitzt. Beschreibst dich, deine geheimsten Gedanken. Fünf Seiten lang. Den ersten von vielen, vielen Briefen, die du ihm schickst. Würdest du das tun? In deiner Verzweiflung? Du bist schließlich eine impulsive Briefschreiberin.«
»Wenn ich seine Adresse hätte, würde ich das tun.«
»Er hat dir eine Adresse in Paris gegeben.« Jetzt nannte er seinerseits sie ihr. Die Adresse eines Tabakladens in Montparnasse. »An Michel, bitte nachsenden - kein Nachname nötig, wurde dir auch nicht genannt.«
»Am Abend schreibst du ihm noch mal aus dem Elend des Astral Commercial and Private Hotel . Und sobald du morgens aufwachst, noch mal. Auf allem möglichen Briefpapier. Während der Proben, in den Pausen, zu den unmöglichsten Zeiten; von nun an schreibst du ihm leidenschaftliche, unüberlegte, rückhaltlos offene Briefe.« Er warf einen Blick auf sie. »Würdest du das tun?« fragte er noch einmal. »Du würdest ihm wirklich solche Briefe schreiben?«
Wie viel Bestätigung braucht ein Mann eigentlich? fragte sie sich. Doch er war bereits einen Schritt weiter. Denn, Freude über Freude - trotz ihrer pessimistischen Voraussagen -, Michel kam nicht nur nach York, sondern auch nach Bristol und - noch besser - nach London, wo er eine ganze wundervolle Nacht in Charlies Camdener Wohnung verbrachte: Raserei die ganze Zeit über. Und dort, sagte Joseph - so dankbar, als habe er jetzt endlich eine komplizierte mathematische Prämisse geschafft -»in deinem eigenen Bett, in deiner eigenen Wohnung, zwischen Beteuerungen ewiger Liebe, haben wir dann diese Ferien in Griechenland geplant, die wir hier und jetzt genießen.« Langes Schweigen, während sie fuhr und nachdachte. Wir sind also endlich hier. Von Nottingham nach Griechenland, in einer Stunde Autofahrt!
»Um mich nach Mykonos mit Michel zu treffen?« sagte sie skeptisch.
»Warum nicht?«
»Mykonos mit Al und der Clique, auf die Fähre, Treffen mit Michel in dem Athener Restaurant, und los geht’s?« »Richtig.«
»Ohne Al«, erklärte sie schließlich. »Wenn ich dich gehabt hätte,
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