Die Libelle
zionistischen Usurpatoren leuchtete mein ältester Bruder wie ein Stern vor mir. In Jordanien, in unserem ersten Lager, wo die Schule eine Blechhütte war, in der es von Flöhen wimmelte. In Syrien, wohin wir flohen, nachdem die jordanischen Truppen uns mit Panzern vertrieben hatten. Im Libanon, wo die Zionisten uns von See her beschossen und aus der Luft mit Bomben belegten, und die Schiiten ihnen dabei behilflich waren. Trotzdem - bei allen Entbehrungen, die ich erleiden musste, vergaß ich niemals den großen Helden in der Ferne, meinen Bruder, dessen Heldentaten, von denen meine geliebte Schwester Fatmeh mir flüsternd erzählte, ich mehr als allem anderen auf der Welt nacheifern möchte.« Er fragte sie nicht mehr, ob sie ihm zuhöre. »Ich bekomme ihn selten zu sehen, und wenn, dann nur unter größter Geheimhaltung. Mal in Damaskus. Mal in Amman. Ein knapper Befehl - komm! Dann weiche ich ihm eine ganze Nacht nicht von der Seite, sauge seine Worte in mich auf, den Edelmut seines Herzens, den klaren Geist des geborenen Befehlshabers, seine Tapferkeit. Eines Nachts beordert er mich nach Beirut. Er ist gerade von einer Mission heimgekehrt, die große Unerschrockenheit erforderte, von der ich aber nichts weiter erfahren darf, als dass es sich um einen totalen Sieg über die Faschisten handelte. Ich soll ihn begleiten, um einen großen politischen Redner anzuhören, einen Libyer, einen Mann von wunderbarer Beredsamkeit und Überzeugungskraft. Die schönste Ansprache, die ich je in meinem Leben gehört habe. Bis auf den heutigen Tag kann ich dir daraus zitieren. Alle unterdrückten Völker der Erde hätten diesen großen Libyer hören sollen.« Die Pistole lag flach auf seiner Hand. Jetzt hielt er sie ihr hin, wollte, dass sie die Hand danach ausstreckte.
»Mit vor Aufregung klopfenden Herzen verlassen wir den geheimen Versammlungsort und kehren in der Beiruter Morgendämmerung nach Hause zurück. Arm in Arm, wie es die Araber tun. Mir stehen die Tränen in den Augen. Einer Eingebung des Augenblicks nachgebend, bleibt mein Bruder stehen und schließt mich in die Arme, während wir dort auf dem Bürgersteig stehen. Ich spüre nun, wie er sein kluges Gesicht an das meine presst. Er zieht diese Pistole aus der Tasche und drückt sie mir in die Hand. So.« Charlie bei der Hand packend, legte er die Pistole hinein, hielt jedoch seine Hand auf der ihren und richtete den Lauf auf die Wand des Steinbruchs. »›Ein Geschenk‹ , sagte er. ›Um damit zu rächen. Um unser Volk zu befreien. Ein Geschenk eines Kämpfers an einen anderen. Mit dieser Pistole habe ich auf das Grab meines Vaters meinen Eid geschworen‹. Mir verschlägt es die Sprache.« Seine kühle Hand lag immer noch auf der ihren, hielt die Pistole darin fest, und sie spürte, wie ihre eigene Hand in der seinen zitterte wie ein Wesen, das mit ihr nichts zu tun hatte. »Charlie, diese Pistole ist mir heilig. Ich sage dir das, weil ich meinen Bruder liebe, weil ich meinen Vater geliebt habe und weil ich dich liebe. Gleich werde ich dir zeigen, wie man damit schießt, aber vorher erwarte ich von dir, dass du sie küsst.« Sie starrte erst ihn, dann die Pistole an. Doch die Erregung in seinen Zügen ließ kein Zaudern zu. Er umfasste mit der anderen Hand ihren Arm und zog sie auf die Füße.
»Wir sind ein Liebespaar, vergiss das nicht! Wir sind Genossen, Diener der Revolution. Wir leben in der engsten Gemeinschaft von Geist und Körper. Ich bin ein leidenschaftlicher Araber, und ich liebe Worte und Gesten. Küss die Pistole!«
»Jose, das kann ich nicht.«
Sie hatte ihn mit Joseph angesprochen, und er antwortete als Joseph.
»Denkst du etwa, es handelt sich um eine englische Tee-Party, Charlie? Denkst du etwa, weil Michel ein hübscher Bursche ist, ist das alles nur Spiel? Wo sollte er gelernt haben, Spiele zu spielen, wenn die Pistole das einzige war, was ihn zum Mann machte?« fragte er völlig logisch. Sie schüttelte den Kopf, starrte immer noch die Waffe an. Doch ihr Widerstreben erzürnte ihn nicht. »Hör zu, Charlie. Gestern Abend, als wir uns liebten, hast du mich gefragt: ›Michel, wo ist das Schlachtfeld?‹ Weißt du, was ich getan habe? Ich habe dir die Hand aufs Herz gelegt und zu dir gesagt: ›Wir kämpfen einen jehad , und das Schlachtfeld ist hier.‹ Du bist meine Jüngerin. Dein Sendungsbewusstsein ist nie so leidenschaftlich gewesen. Weißt du, was das ist - ein jehad ?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Ein jehad ist das, wonach du
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